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Über 100 Messerattacken in Zürich
«Die hohe Zahl an jugendlichen Beschuldigten ist beunruhigend»

[SYMBOLBILD Jugendkriminialtaet / Gestellte Szene] Eine Gruppe Jugendlicher - einer davon mit einem Messer in der Hand, fotografiert am 15. Oktober 2022. (KESTONE/Christof Schuerpf)
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Die Täter sind oft sehr jung und die Tatorte liegen etwa in der Bäckeranlage oder im Friesenbergquartier: Dort erstach ein 15-jähriger Eritreer im September einen 45-jährigen Vater von vier Kindern, als dieser einen Streit schlichten wollte. Und erst vor zehn Tagen eskalierte in der Bäckeranlage eine Auseinandersetzung, bei der ein 16-jähriger Afghane einen 39-Jährigen niederstach.

«Man kann nicht sagen, Messerangriffe fänden nur in der Stadt Zürich statt. Das ist ein Phänomen, das man im ganzen Kanton sieht», sagte Regierungspräsident und Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) am Montag, als er die Zürcher Kriminalstatistik 2023 präsentierte. Fälle mit einem Messer als Tatwaffe hätten sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt.

33 versuchte Tötungen mit einem Messer

Wurden im Corona-Jahr 2020 noch 23 Messerangriffe im Kanton registriert, stieg die Zahl der Fälle seither kontinuierlich an. 2023 griffen Täter über 100 Mal zu Schneide- oder Stichwaffen, um damit Menschen schwer zu verletzten – in zwei Fällen endete der Angriff, wie im Friesenbergquartier, tödlich. Insgesamt kam es im Kanton Zürich zu 7 vollendeten und 47 versuchten Tötungsdelikten, davon 33 mit einem Messer.

Bei fast einem Drittel aller Messerangriffe waren laut Kriminalstatistik Jugendliche die Täter. «Beunruhigend ist die hohe Zahl an jugendlichen Beschuldigten bei schwerer Körperverletzung», sagt Christiane Lentjes Meili, Chefin der Kriminalpolizei im Kanton Zürich.

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Während vor der Pandemie noch deutlich mehr in- als ausländische Jugendliche Messerangriffe verübten, kehrte sich dieser Trend ab 2020 um. 2023 haben die Zürcher Polizeien 10 Schweizer Jugendliche und 22 ausländische als Tatverdächtige von Messerangriffen ermittelt. 7 von ihnen waren aus Afghanistan sowie je 3 aus Syrien und Eritrea.

Auch der 16-jährige Messerangreifer in der Bäckeranlage stammt aus Afghanistan und ist laut Regierungspräsident ein unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender. «Ich habe das Staatssekretariat für Migration aufgefordert, ihm den Asylstatus wegzunehmen und ihn möglichst schnell ausser Landes zu bringen», so Fehr.

Regierungspraesident Mario Fehr, Sicherheitsdirektor, informiert an einer Medienkonferenz ueber Zahlen und Entwicklungen der Kriminalitaet im Kanton Zuerich, aufgenommen am Montag, 25. Maerz 2024 in Zuerich. (KEYSTONE/Ennio Leanza)

Jedoch dürfen jugendliche Asylsuchende laut der Schweizerischen Flüchtlingshilfe nur dann weggewiesen werden, wenn sichergestellt ist, dass sie von ihrer Familie oder einer Institution aufgenommen werden können. Lediglich im Fall eines negativen Asylentscheids mit angeordnetem Wegweisungsvollzug können unbegleitete Jugendliche ausgeschafft werden.

Die Jugendkriminalität im Kanton Zürich stieg seit dem Jahr 2016 um rund 60 Prozent. Für jede zehnte Straftat war im Vorjahr ein männlicher Jugendlicher verantwortlich.

Dabei ist die Jugendkriminalität laut Regierungspräsident Fehr bereits seit mehreren Jahren ein eigener Projektschwerpunkt von Kantonspolizei, den Stadtpolizeien in Zürich und Winterthur sowie der Ober- und den Jugendanwaltschaften. Patrouillen und Kontrollen an neuralgischen Punkten, wie etwa der Partyszene entlang der Langstrasse oder den Ausgehzonen rund um den Hauptbahnhof sollen Sicherheit bringen. Fast 1500 Hieb- und Stichwaffen konnte die Polizei 2023 sicherstellen.

Sogenannte Kinder- und Jugendinstruktoren der Kantonspolizei versuchen, in Schulen und Jugendtreffs Jugendliche zu sensibilisieren. Zudem soll die Präventionskampagne No-front.ch ein Orientierungsangebot f¨ür Jugendliche sein.

Mit Butterfly- und Springmessern «herumprahlen»

Laut der Kampagne von Kantonspolizei und den Stadtpolizeien Zürich und Winterthur hat jeder fünfte Jugendliche schon einmal ein Messer mit sich geführt. Für viele gehöre es dazu, sich zu bewaffnen, um sich «draussen» verteidigen zu können. Komme es zu Beleidigungen oder Auseinandersetzungen, wofür manchmal schon ein Blick ausreiche, sei ein Messer schnell gezogen.

«Deine Männlichkeit stellst du nicht als krasser oder härter unter Beweis, wenn Du mit einem Butterfly- oder einem Springmesser vor Kollegen herumprahlst», wendet sich die Kampagne vor allem an männliche Jugendliche, die fast viermal häufiger als Mädchen in der Kriminalstatistik vertreten sind.

Viele würden glauben, bewaffnet könne man sich in brenzligen Situationen behaupten und so auch Macht demonstrieren. «Aber genau das ist das Problem – denn so eskalieren Situationen erst richtig. Und es kann schnell zu lebensgefährlichen Situationen kommen», heisst es in der Kampagne. Bei schweren Körperverletzungen seien Messer das Tatmittel Nummer eins.

Radikalisierung von 15-Jährigem im Ausland und online

Auch der 15-jährige schweizerisch-tunesische Doppelbürger verwendete bei seinem Angriff auf einen jüdisch-orthodoxen Familienvater vor drei Wochen mitten in Zürich ein Messer. «Wir stehen immer noch stark unter dem Eindruck der Terrorattacke», sagte der Regierungspräsident.

Auf die Frage, was den Messerangreifer radikalisiert habe, betonte Fehr, das sei stets ein innerer Vorgang. Er nannte dennoch zwei Faktoren: erstens einen «starken Tunesien-Bezug». Dieser gehe über einen mindestens vier Jahre dauernden Aufenthalt des 15-Jährigen in dem nordafrikanischen Land zwischen 2017 und 2021 hinaus. Zweitens verwies Fehr auf die radikalisierenden Internetforen, in denen der Attentäter sehr viel Zeit verbracht habe.

Damit bestätigte der Regierungspräsident auch die Recherchen dieser Redaktion. Sie zeigten auf, in welch extremistischer Onlinewelt sich der 15-Jährige lange Zeit vor dem Angriff bewegt hatte.

Christiane Lentjes Meili, Chefin Kriminalpolizei der Kantonspolizei Zuerich, informiert an einer Medienkonferenz ueber Zahlen und Entwicklungen der Kriminalitaet im Kanton Zuerich, aufgenommen am Montag, 25. Maerz 2024 in Zuerich. (KEYSTONE/Ennio Leanza)

Das geltende Jugendstrafrecht bezeichnete Fehr zwar als «nicht einfach schlecht». In den meisten Fällen gebe es die richtigen Antworten. Bei schweren Gewalttaten, konkret bei vorsätzlicher Tötung, schwerer Körperverletzung, Vergewaltigung und Terrorismus, hält er aber eine gezielte Verschärfung des Jugendstrafrechts für notwendig. «Die Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen für die, die hier aufwachsen und sozialisiert werden», sagte der Regierungspräsident.

Als Doppelbürger, wie es der 15-jährige Attentäter ist, könne man sich einiges erlauben. Doch in Extremfällen lasse das Gesetz bei Bürgern mit einer weiteren Staatsbürgerschaft auch den Entzug des Schweizer Bürgerrechts zu. «Ich sehe nicht ein, weshalb wir als Gesellschaft immer die Verantwortung übernehmen müssen für alles, was irgendwo auf der Welt passiert», so Fehr.