Grossbritanniens EU-AustrittSelbst für Farage ist der Brexit eine Pleite
Der Pate des Brexit ist unglücklich mit dessen Folgen. Jetzt drohen sogar drei Riesen der Automobilindustrie mit der Einstellung ihrer Produktion in Grossbritannien.
Kurioser könnte es kaum sein. Ausgerechnet Nigel Farage, der mehr als sonst jemand dazu beitrug, dass es zum Brexit kam, hat jetzt ein vernichtendes Urteil über die Folgen des britischen Austritts aus der EU gefällt. Der langjährige EU-Gegner und frühere Vorsitzende der Unabhängigkeitspartei Ukip ist zu dem Schluss gekommen, dass sein Land «vom Brexit nicht wirklich profitiert hat, wirtschaftlich gesehen». «Brexit has failed», der Brexit habe sich leider als Fehlschlag erwiesen, urteilt Farage neuerdings.
Nun meint Farage damit freilich nicht, dass man seinerzeit besser in der Europäischen Union geblieben wäre. Am Prinzip selbst, das er so vehement vertrat, ist für ihn absolut nichts falsch. Die Schuld für das Misslingen des Projekts weist er ganz einfach der Tory-Regierung zu, die alles «miserabel abgewickelt» habe: «Unsere Politiker sind genauso nutzlos, wie es die Kommissare in Brüssel immer waren.»
«Die Tories haben uns ganz schön im Stich gelassen.»
Statt mithilfe des Brexit die britische Wirtschaft anzukurbeln, habe eine hoffnungslose Regierungspolitik im Gegenteil viele Unternehmen aus dem Land vertrieben. Und die Lage an den Grenzen habe sich auch nicht gebessert, was den Rekordzustrom an Fremden – diesmal von ausserhalb der EU – betrifft: «Die Tories haben uns ganz schön im Stich gelassen. Sie haben uns vollkommen enttäuscht.»
Tatsächlich ist die Stimmung seit der Unterhauswahl von 2019, bei der Boris Johnson gelobte, den Brexit «endgültig über die Bühne zu bringen», deutlich umgeschlagen. Wie Farage stossen den meisten seiner Landsleute zunehmend die negativen Folgen auf, die die Abkehr von der EU Grossbritannien eingetragen hat.
Den letzten Umfragen zufolge glauben inzwischen 59 Prozent der Briten, dass ihr Land heute schlechter dasteht als vorm EU-Austritt. Aber anders als Farage halten immer mehr den Austritt selbst für einen Fehler. Rund ein Fünftel der Wähler, die beim Referendum von 2016 für den Brexit stimmten, bereut inzwischen diese Entscheidung.
Keines der Versprechen hat sich erfüllt
Was kein Wunder ist: Denn keines der Versprechen der Brexit-Kampagne, in der Johnson und Farage eine so zentrale Rolle spielten, hat sich erfüllt in den letzten Jahren. Verheissen worden war den Wählern, dass ihr Land, aller EU-Fesseln entledigt, ein fantastisches neues Wachstum, einen regelrechten nationalen Aufschwung erleben würde. Dass zahllose Milliarden Pfund statt nach Brüssel ins eigene nationale Gesundheitswesen fliessen würden. Dass ein Einwanderungsstopp für Kontinentaleuropäer zu höheren Löhnen bei den am schlechtesten bezahlten Briten führen würde. Dass die Lebenshaltungskosten in Grossbritannien sich nach einem EU-Austritt beträchtlich verringern würden. Und dass die Demokratie auf der Insel neu belebt werden würde durch eine Rückkehr zu grösserer nationaler Souveränität.
Stattdessen sind die Briten von einer Krise in die nächste geschlittert. Fünf Premierminister (derselben Partei) haben sie in sieben Jahren in No 10 Downing Street gesehen. Das Vertrauen in die Politik hat sich spürbar verringert. Und das Wirtschaftswachstum stagniert. Bei den Industrienationen der G-7 findet sich derzeit Grossbritannien auf dem letzten Rang. Generell hat es auf der internationalen Bühne eher an Einfluss verloren, als die gloriose neue Rolle zu finden, die Boris Johnson den Leuten einmal verhiess.
Im Land selbst haben sich die Reallohneinbussen vieler Jahre für Millionen Briten als verhängnisvoll erwiesen. Die Inflationsrate liegt höher als in vielen Ländern der EU. Die Zahl der Mittellosen wächst unentwegt. Sozialfürsorge und karitative Verbände können dem Andrang der Bedürftigen kaum noch gerecht werden. Das Gesundheitswesen, das durch den Brexit kuriert werden sollte, ist in einer Krise wie noch nie.
Wirtschaft bricht ein
Und Londons unabhängiges Amt für gute Haushaltsführung hat einen Einbruch der britischen Wirtschaftskraft wegen des Brexit um 4 Prozent im Jahr prophezeit. Die Bank von England schätzt, dass der Wirtschaft durch den Brexit schon jetzt fast 30 Milliarden Pfund an Investitionen verloren gingen. Viele Unternehmen haben Konkurs gemacht, weil der Handel mit Kontinentaleuropa eingebrochen ist.
In den vergangenen Tagen haben drei der grossen im Vereinigten Königreich vertretenen Automobilkonzerne (Ford, Jaguar Land Rover und Stellantis, zu dem ausser Vauxhall auch die Marken Fiat, Citroën und Peugeot gehören) die britische Regierung gewarnt, dass sie sich womöglich zur Einstellung ihrer Produktion in Grossbritannien gezwungen sehen würden, falls London nicht schleunigst zu einer neuen Handelsvereinbarung mit der EU komme.
182’000 Jobs in der Autoindustrie
Im Kern geht es darum, dass die Konzerne ab nächstem Januar 10-prozentige Zölle für britische Exporte zum Kontinent zahlen müssten, wenn sie – zum Beispiel wegen des Ankaufs teurer Batterien aus China – nicht genug Materialien aus dem Vereinigten Königreich selbst oder aus der EU verwenden. Solche Zölle wären auch für die EU ein Problem. In Grossbritannien würden sie aber unmittelbar die Zukunft der heimischen Autoproduktion bedrohen, die immerhin 182’000 Beschäftigte umfasst.
Auch andere Probleme werden deutlicher. Die Verhandlungen über eine erneute intensive Kooperation mit der EU im Forschungsbereich, etwa beim Horizon-Projekt, ziehen sich mühsam hin. Der Tourismus aus Europa leidet, und in umgekehrter Richtung müssen sich britische Reisende darauf einstellen, dass ihnen demnächst Fingerabdrücke abgenommen werden beim Grenzübergang zur EU.
Die Schüler aus der EU kommen nicht mehr
Britische Musiker und andere Künstler, die in der EU auftreten wollen, klagen über jede Menge bürokratischer Hürden. Schulklassen aus dem EU-Bereich, die früher gern auf die Insel reisten, bleiben aus – schon weil Pässe erforderlich sind und nicht alle Kinder aus der EU Pässe haben. Personalausweise allein tun es aber bei der Einreise nach Grossbritannien nicht mehr.
All dem zum Trotz besteht Premierminister Rishi Sunak darauf, dass der Brexit generell als Erfolg zu werten sei und man nur noch ein bisschen mehr Zeit brauche, um die Früchte der neuen Unabhängigkeit zu ernten. Gefragt, worin denn die grossen Errungenschaften des Brexit bestünden, hat Sunak letzte Woche etwas gequält erklärt, Bier zum Beispiel oder auch Hygieneartikel seien billiger geworden, weil man die Mehrwertsteuer jetzt in eigener Regie festlegen könne.
Fehler gefunden?Jetzt melden.