Gastkommentar zum BildungssystemSchweizer Schulen könnten mehr erfolgreiche Karrieren fördern
Lernende sollen in den kulturtechnisch bedeutenden Fächern Deutsch und Mathematik unabhängig von ihrem Alter dort abgeholt werden, wo sie stehen.

Statt wie im Artikel «Die Schweiz ist kein Land für Tellerwäscherkarrieren» darauf zu fokussieren, wie Missstände behoben werden können, blicken wir stets besorgt auf Studien, die die Schweiz in Bezug auf den Lernerfolg an Schulen – notabene trotz dualem Bildungsweg – lediglich medioker dastehen lassen.
Es sind immer gleiche Studien, die zeigen, dass Akademikerkinder besser performen als Kinder von Nichtakademikerinnen und Nichtakademikern.
Dabei gibt es viel bemerkenswertere Studien. Etwa jene, die besagt, dass die Erwartungshaltung der Eltern den Lernerfolg ihrer Kinder am allermeisten prägt. Michaela Knecht von der Fachhochschule Nordwestschweiz schreibt: «Die Erwartungshaltung des Umfeldes, in dem ein Kind aufwächst, ist für den Schulerfolg entscheidend. Sie ist vom sozioökonomischen Umfeld unabhängig.» Trotz dieser Erkenntnis ist das Bildungssystem höchst ungerecht, evoziert zu viele Lern- und Verhaltensstörungen und fördert zu wenig Potenzial.
Schüler sollen nach Stand ihrer Fähigkeiten gefördert werden
Auf dem Weg zu einem effizienteren Ansatz begegnet man der Studie der Armutsforscherin Esther Duflo. Sie hat 2019, zusammen mit zwei weiteren US-Wissenschaftlern, den Nobelpreis für Ökonomie erhalten. Die drei Forschenden haben in Indien und Kenia untersucht, weshalb die von vielen Millionen Dollar unterstützten Bemühungen nichts bewirkten. Sie fanden heraus, dass der Schulunterricht jeweils nicht an das kindliche Niveau angepasst ist, und raten, Schülerinnen und Schüler nicht mehr ihrem Alter, sondern vielmehr dem Stand ihrer Fähigkeiten entsprechend zu fördern.
Als Pädagogin ist es schwer zu verstehen, weshalb dieser Forderung nicht endlich entsprochen wird. Denn es wäre sehr einfach: Expertinnen und Experten plädieren für einen individualisierenden Unterricht. Unter dieser Bezeichnung werden leider auch ineffiziente individualisierende Unterrichtsformen subsumiert. Mit Wochenplänen arbeiten ist solch eine ineffiziente Form.
Da gibt es Kinder, die diese schnell abarbeiten, andere brauchen viel länger, oder – für viele noch schlimmer – sie bekommen angepasste Wochenpläne mit reduziertem Schwierigkeitsgrad und reduzierten Pensen. Ein Stigma, das die Betroffenen nolens volens akzeptieren müssen. Innerlich wehren sie sich dagegen, wenn auch oft unbewusst.
Schon Vierjährige wollen selbst Verantwortung übernehmen und reagieren mit Lernstörungen, wenn sie in lang dauernden Kreislektionen vorgesagt bekommen, was und in welchem Tempo sie lernen sollen und beim autonomen Lernen lediglich drei oder vier Spiele zur Auswahl haben. Die Forderung, die das Schulumfeld einschliesslich Kinder – auch fremdsprachige! –, Eltern, Lehrpersonen, Therapeuten und Schulleitungen, ja die gesamte Gesellschaft entlasten würde, lautet: Lernende sollen in den kulturtechnisch bedeutenden Fächern Deutsch und Mathematik unabhängig von ihrem Alter dort abgeholt werden, wo sie stehen.
Sie sollen selbst bestimmen können, wann sie zu welchem Thema eine Lernkontrolle schreiben. Und in den Zeugnissen soll neben der Note vermerkt werden, welche Lernziele bereits erreicht wurden. Damit entstünde von heute auf morgen aus dem veralteten, defizitorientierten Unterricht ein zukunftsfähiges, chancengerechtes Modell, das weder Potenzial noch Lernfreude bremst.
Clarita Kunz ist schulische Heilpädagogin, Leiterin des Montessori-Kindergartens Feldmeilen und Autorin von «Schule als Leistungsbremse».
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