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Meinung

Leitartikel zum Schulstart
Die Volksschule darf nicht zur Kampfzone werden

Kinder der 1. und 2. Klasse sitzen im Schulunterricht, am Montag, 15. August 2022, an der Primarschule in Lauperswil im Emmental. Wie in der ganzen Schweiz herrscht auch im Kanton Bern ein Mangel an Lehrpersonen. (KEYSTONE/Peter Schneider)
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Die Sommerferien sind vorbei, nun strömen etwa eine Million Schülerinnen und Schüler schweizweit in ihre Klassen. Gleichzeitig nehmen die bildungspolitischen Debatten wieder Fahrt auf. Denn die Schweizer Volksschule steht vor immensen Herausforderungen.

Da ist der viel beklagte Lehrermangel, der sich zwar etwas entschärft hat im Vergleich zum Vorjahr. Trotzdem melden diverse Kantone unbesetzte Stellen, beispielsweise 196 im Aargau und 82 im Kanton Zürich.

Wegen der steigenden Schülerzahlen braucht es auch mehr Schulzimmer, mehr Turnhallen, mehr Garderoben. In verschiedenen Schweizer Städten sind Grossprojekte für zusätzliche Schulräume in Planung.

Grosse Unterschiede zwischen Akademiker- und Nichtakademikerkindern

Die integrative Förderung mit dem Ziel, Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen in regulären Klassen zu beschulen, steht unter politischem Druck. Obwohl wissenschaftliche Studien klare Vorteile bei der integrativen Schule feststellen, wird moniert, dass Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten den Unterricht stören. Die Lehrpersonen sind überlastet, weil sie zu viele unterschiedliche Bedürfnisse von vielen Kindern gleichzeitig erfüllen müssen.

Auch punkto Chancengleichheit ist nicht alles zum Besten bestellt. Diese Woche publizierte diese Redaktion erstmals eine detaillierte Datenanalyse, die grosse Unterschiede zwischen Akademiker- und Nichtakademikerkindern hinsichtlich Bildungschancen aufzeigt. 40’000 junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren haben keinen Abschluss auf Sekundarstufe II. Das ist verheerend für ein Land, das gegen Fachkräftemangel kämpft.

Die vielen Herausforderungen führen dazu, dass die Schweizer Volksschule zur Kampfzone der politischen Auseinandersetzung geworden ist. So erklärte FDP-Chef Thierry Burkart kürzlich gegenüber dieser Redaktion die integrative Schule für gescheitert. Nicht nur den integrativen Unterricht möchten die Freisinnigen abschaffen. Die Partei fordert in einem Bildungspapier auch den Abbau von Frühfranzösisch und Frühenglisch. 

SVP freut sich über Kritik an Schulen von der FDP

Die bildungspolitischen Positionen der FDP ähneln jenen der SVP. Deren Präsident Marcel Dettling freute sich in der NZZ darüber, «dass die FDP nun auch auf unseren Weg einschwenkt». Noch in diesem Jahr will auch die SVP ein überarbeitetes Bildungspapier präsentieren. Und die Mitte-Partei fordert schon seit längerem, das Modell der integrativen Schule kritisch zu hinterfragen.

Dass sich die Politik mit der Volksschule befasst und nach Lösungen für Probleme sucht, ist zu begrüssen. Die Grenze ist dort zu ziehen, wo legitime Forderungen in Populismus umschlagen. Wenn etwa Dettling kritisiert, dass «die Lehrer keine Zeit mehr für richtigen Unterricht haben und die Schülerinnen und Schüler stattdessen Filme über Transsexualität schauen lassen». Dabei ist Sexualkunde obligatorischer Bestandteil im Lehrplan. Provokationen à la Dettling tragen nur wenig – oder gar nichts – zur Verbesserung der Bildung unseres Nachwuchses bei.

Bildungspolitischer Populismus ist zwar simpel, aber alles andere als konstruktiv. Die Volksschule bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Akteure aus allen diesen Bereichen müssen kooperieren, um Verbesserungen zu erreichen und Reformen umzusetzen. Oder anders gesagt: Das Land braucht tragfähige Lösungen statt Stammtisch-Forderungen. 

Doch wie könnten diese Lösungen aussehen? Vor allem die Kantone sind gefragt, denn die Bildungshoheit liegt bei ihnen. Viele Kantone bemühen sich und lancieren vielversprechende Initiativen. Im Kanton Bern etwa können Lehrerinnen und Lehrer mit einem ausländischen Diplom eine Weiterbildung absolvieren und werden danach als vollwertige Lehrpersonen anerkannt.

Lehrberuf ist immer noch beliebt

Einige Kantone wie Aargau, Solothurn oder Zürich setzen auf Personen ohne Lehrdiplom, sogenannte Poldis, um dem Lehrermangel entgegenzuwirken, obwohl trotz dieser Massnahme Stellen unbesetzt bleiben. Auch die Diskussion um Mindestpensen darf kein Tabu sein. Der Kanton Genf etwa schreibt ein Mindestpensum von 50 Prozent für Lehrerinnen und Lehrer vor und macht damit gute Erfahrungen, wie die Bildungsdirektion und die Lehrerschaft oft betonen. Die Stadt Uster hat ein erfolgreiches Projekt umgesetzt und die Klassenzusammensetzung nicht mehr über Wohnortnähe geregelt, sondern darauf geachtet, dass Kinder aus unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen zusammenkommen.

Es gibt immer wieder Lichtblicke. So hat die Pädagogische Hochschule Bern letzten Herbst eine Rekordzahl bei den Anmeldungen verzeichnet. Das zeigt, dass der Lehrberuf noch immer beliebt ist.

Schliesslich und vor allem braucht es mehr finanzielle Mittel und personelle Ressourcen, um den Schulbetrieb zu entlasten. Die integrative Schule ist eine wichtige bildungspolitische Errungenschaft der letzten zwanzig Jahre. Es lohnt sich, an ihr festzuhalten, trotz der vielen Herausforderungen.

Die Sommerferien sind vorbei – und damit auch die Zeit, sich auf Kosten eines angeblich gescheiterten Schulmodells zu profilieren. Eine inklusive Gesellschaft braucht eine inklusive Schule, und die darf – sie muss – etwas kosten. Davon profitieren alle, nicht zuletzt auch die Wirtschaft.