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Premiere am Schauspielhaus Zürich
Bevor alles verglüht, lädt er ein letztes Mal zur Party ein

«No Problemo» steht auf dem Pulli von Alexander Giesche (41), der mit seinen Visual Poems einen ganz eigenen Stil ins Theater brachte.
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Es war ein Match zwischen Zürich und dem Regisseur Alexander Giesche, als sie sich 2019 im Internet kennen gelernt hatten. In der Stadt wurde seine Sonnenlichtinstallation «Das Internet» an unterschiedlichen Orten aufgebaut. Darin eine Nebelmaschine und farbige Wände, in denen das Licht spielte, und schon war man komplett verloren und dachte: Befinde ich mich gerade in einem Glasfaserkabel?

Das Bestechende daran: Die vermeintlich verbindende Wirkungsmacht des digitalen Raums wurde untergraben, und man fragte sich: Wo bin ich aufgehoben? Wo ist die echte Gemeinschaft? Kann im Glasfaserkabel wirkliche Begegnung stattfinden? Vermutlich nicht.

Der 41-Jährige kam als einer der neuen Hausregisseure für die Blomberg-Stemann-Intendanz ans Schauspielhaus. Wenn man beschreiben müsste, woraus sich seine Visual Poems zusammensetzen, dann vielleicht so: ein drängendes Thema unserer Zeit, dazu grosse Bilder, Licht, Nebel, Video, Popmusik, absurde Situationen, ganz wenig Text aus Werken von Max Frisch, Michael Ende oder Tennessee Williams und – Achtung: Stroboskop.

Mit der Sonnenlichtinstallation «Das Internet» stellte sich Alexander Giesche 2019 in Zürich vor.

Morgen Abend feiert die Uraufführung von Tennessee Williams’ letztem Roman «Moise und die Welt der Vernunft» nach Alexander Giesche Premiere. Darin lädt die Malerin Moise zur grossen Party ein, weil sie sich von der Kunst verabschieden will. Ganz wichtig ist ihr namenloser Freund, und in New York geht die Sonne auf und wieder unter. Während dieser Abschiedsparty wird Giesche, so lässt ein Probenbesuch vermuten, bildstarke Möglichkeitsräume öffnen, die von der Zärtlichkeit der Begegnung und der Bitterkeit des Abschieds erzählen.

«Es ist ein Plädoyer für die Zerbrechlichkeit», sagt er an einem Nachmittag in Zürich und fügt an, dass es, etwas überraschend, nun auch sein Abschied aus dem Theaterbetrieb sei. Drama, Baby! – etwas viele Abschiedssituationen gleichzeitig. Aber bevor der Vorhang fällt, wird im Pfauen mit Rimowa-Koffern zu Eurodance-Musik Curling gespielt. So viel verrät er vorab über eines seiner Bilder zu Tennessee Williams.

Giesche interessiert sich stärker für Interpretation als Adaption. Also will man wissen, wie wenig Text er aus dem Original übernommen hat. «Vier A4-Seiten. Sonst haben die Bilder keine Chance. Eine Dreiviertelstunde wird auch gar nicht gesprochen, ausser halbe Sätze wie: ‹Mach die Musik lauter.› Ganz schön dreist, nicht?» Genau dafür haben ihn die Häuser die letzten Jahre angestellt, aber klar, das Publikum wird entscheiden, ob es sich einlassen will.

Giesche sagt dazu nur: «Ohne euch passiert hier überhaupt nichts!» Die Idee der Gastgeberschaft gehört zu seiner Kunst. Ob Schauspielerinnen oder Zuschauer, er löst mit seinen Bildern den Raum auf und stilisiert es, nur schon durch die Anwesenheit aller im Raum, zum Kunstmoment.

Kulturelles Kapital findet Giesche hingegen eher lästig, er erwartet von seinem Publikum nichts. Im Gegenteil. «Ihr müsst hier nicht alles verstehen. Niemand ist im Vorteil, der denkt, sein Reclamheft anwenden zu können.» Und das, obschon er mit einem Visual Poem nach Max Frisch bekannt wurde. Die Klimakrise leistete ihren Beitrag dazu, dass «Der Mensch erscheint im Holozän» 2020 auch ein Stück zur Klimakatastrophe war.

Gletscher schmelzen, ein Berg rutscht, und ein Mann beginnt zu vergessen. «Klimawandel» wurde nie ausgesprochen, aber man ahnte schon viel, als damals eine Windmaschine Schauspielerin Karin Pfammatter und Schauspieler Maximilian Reichert beinahe von der Bühne weht. Und als es sintflutartig regnet – regnet es bei Giesche in allen Farben.

Nur haarscharf windet es die beiden nicht von der Bühne in «Der Mensch erscheint im Holozän».
Gletscher schmelzen, Berge verrutschen und die Erinnerung bekommt Löcher in Giesches Visual Poem «Der Mensch erscheint im Holozän».

Für diese Arbeit bekamen Giesche und sein Team den 3sat-Preis, den Nestroy-Preis für die beste deutschsprachige Aufführung, und sie wurden zum Theatertreffen eingeladen. Max Frisch diente ihm als Ausgangsstoff für die Atmosphären und Zustände auf der Bühne. «Ich habe schon früh den Dramaturgen provoziert und gefragt, ob er den Verlag informiert habe, dass am Ende vielleicht nur drei Sätze vorkommen werden.»

Wenn er beim Text stark kürzt, fordert er hingegen das Zeitgefühl des Publikums, einen Abend still zu sitzen, immer heraus. 2022 in «Momo» stehen Karin Pfammatter, Maximilian Reichert und Thomas Wodianka im Kreis und zählen. Abwechselnd ruft jemand die nächsthöhere Zahl, wer den anderen ins Wort fällt, muss wieder bei 0 beginnen. Das hielten nicht alle im Publikum aus. In «Verbundensein» nach Kae Tempest am Theater Bremen liess Giesche Hunderte VHS-Kassetten in Schlangenlinien auf der Bühne aufstellen. Das dauerte dann so lange, wie es eben dauerte.

Felix Siwiński hat die Kostüme für Giesches Visual Poems entworfen. In «Afterhour» sind es Wuschel, die von Kopf bis Fuss aus Bast und Folienfäden bestehen, darin tanzen die Schauspielerinnen und Schauspieler.
«Was ich auch tue, es hat keinen Sinn, wenn das Haus in Flammen steht», sagte Greta Thunberg beim WEF. Giesche lässt 2021 in «Afterhour» Wälder brennen und seine Spielerinnen und Spieler Gasmasken tragen.

Giesche fordert Zeit ein, setzt auf viel Technik und grossartige Kostüme. Felix Siwiński entwickelt das Visual Poem weiter, wenn er in «Afterhour» über das grosse Gefühl des Danach aus Bast und reflektierenden Folienfäden eine Art Wuschel entwirft, in denen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler in die Besinnungslosigkeit tanzen. Während vorher noch die Wälder brannten und alle Gasmasken trugen.

Drehbühnen, Nebelmaschinen oder Momos Schildkröte Kassiopeia in Robotergestalt. Ihr klatschten wir ganz selbstverständlich zu, weil sie sich beim Schlussapplaus unheimlich menschenähnlich verbeugte. Über das iPad war Thomas Hauser den ganzen Abend zugeschaltet, der an Präsenz im Vergleich zur physischen Anwesenheit seiner Kolleginnen und Kollegen eindrücklicherweise gar nichts einbüsste.

Michael Endes Schildkröte Kassiopeia war in Giesches «Momo» ein Roboter. Hier zusammen mit Karin Pfammatter auf einem Spaziergang.

Alexander Giesches Kunst hat eigentlich alles, was man sich heute fern vom Repertoiretheater anschauen möchte. Trotzdem will er jetzt mit 41 aufhören, weil er müde sei.

«Ich möchte daran glauben, dass man Systeme verändern kann.» Aber die Schwerfälligkeit der Institutionen mache es nicht mehr möglich. «Wir haben die Frequenz hochgeschraubt – und gleichzeitig soll ein Privatleben möglich sein, was total wichtig ist. Nur, machen wir denn jetzt einfach weiter, wie vor zwanzig Jahren, zu Christoph Marthalers Zeiten?» Mehr Stücke anzubieten und so auf mehr Publikum zu hoffen, funktioniere nicht mehr. Es sei eine komplett andere Welt gewesen, als noch nicht alle gestreamt hätten und nach Unterhaltung lechzten.

Das Schauspielhaus schreibt neben jedes Stück, woraus es besteht. Bei «Moise und die Welt der Vernunft» nach Giesche ist es: «60% Broken Heart, 80% Care und 100% Last Words.» Vielleicht macht Giesche nach der grossen Party erst einmal Detox – denn es war ja doch ein Match mit dem Theater. Und wie oft glücken Liebesgeschichten schon.

«Moise und die Welt der Vernunft» ist bis Anfang Juni im Zürcher Schauspielhaus zu sehen.