Schauspielhauschefs ziehen Bilanz«Wir haben nie erwartet, dass unser Vorhaben konfliktlos sein soll»
Nicolas Stemann zeigt am Donnerstag seine letzte eigene Premiere. Gemeinsam mit Co-Indendant Benjamin von Blomberg erzählt er, was ihn in Zürich enttäuscht hat – und was versöhnt.
Konfliktfrei wars nicht. Im Herbst 2019 traten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg ihre Intendanz an mit der Idee, das Schauspielhaus Zürich für die gesellschaftlichen Diskurse fit zu machen. Doch die Pandemie bremste, und auch danach blieben die Besucherzahlen mau: In der Saison 2022/23 gab es rund 95’000 Besuchende (in der letzten Spielzeit von Vorgängerin Barbara Frey: 136’000). Dazu kam eine heftige politische Debatte über zu viel «Wokeness» an der Bühne. Am Ende wurde unter Getöse der Intendantenvertrag nicht verlängert. Er läuft im Sommer aus.
Herr Stemann, Herr von Blomberg, Sie sind in den Proben zu Ihrer letzten Inszenierung am Schauspielhaus Zürich. Wie gehts Ihnen mit dem Abschied, den Sie für später erhofft hatten?
Stemann: Man denkt, wir müssten jetzt wahnsinnig verbittert sein, weil es nun nicht länger dauert als fünf Jahre. Aber als ich anfing, war ich nicht einmal sicher, ob ich das länger mache als drei Monate; tatsächlich habe ich eine gute Zeit hier gehabt und sehr viel gelernt. Klar, es war auch sehr anstrengend, deswegen bin ich nicht nur unfroh, dass es jetzt schon zu Ende geht. Aber ich hätte mich schon gefreut, es weiterzuführen. Rein künstlerisch sind meine Arbeiten in Zürich noch mal auf eine andere Art zu sich gekommen. Alles in allem gucke ich relativ versöhnt auf diese Zeit zurück. Die Entscheidung, uns nicht zu verlängern, halte ich dennoch für einen Fehler, auf vielen Ebenen.
v. Blomberg: Für die mutige Entscheidung, uns damals zu engagieren, bin ich aber weiter dankbar. Da war etwas im Aufbruch, es ging in der Kulturpolitik um mehr als um blosses Verwalten. «Der die Verwandlungen scheut / mehr als das Unheil, / was kann er tun / wider das Unheil?» heisst es in Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter», das wir jetzt aufführen. Und wir haben alles dafür getan, die Zeit gut zu nutzen. Dieser Ort hat gestrahlt, grosse internationale Resonanz erfahren, das Publikum hat sich diversifiziert. Ich wehre mich gegen die Ansicht, die Stadt sei für uns oder wir für sie nicht richtig gewesen; dass wir besser nach Hamburg oder Berlin passen würden. Wir haben ein sehr metropolenhaftes Theater für die Limmatmetropole gemacht, die urbaner, heterogener und jünger ist, als manche – auch jene, die Entscheidungen treffen – meinen.
Sie haben also keine Fehler gemacht?
v. Blomberg: Künstlerisch gesprochen? Ich muss schon sagen: Ich bin sehr glücklich mit dem Programm. Aber klar haben wir auch Fehler gemacht! Wandel war unser Auftrag, und wir haben einen Transformationsprozess angestossen. Aber Wandel bedeutet eben auch Schwierigkeiten, Konflikte und Fehlermachen.
Stemann: Allein ein Konzept wie «flachere Hierarchien», das ich für ein zeitgemässes Theater für unabdingbar halte, produziert enorm viel Arbeit, weil man da in grossen Runden unglaublich viel diskutieren muss. Und wenn acht Hauskünstlerinnen und -künstler sich den Raum teilen, ist das durchaus ambitioniert. Auch das Zusammenwachsen der diversen Ensemble-Teile hat sich nicht so reibungslos eingestellt, wie wir ursprünglich, etwas naiv, gedacht hatten. Zudem hat die Corona-Zeit mit ihren Beschränkungen vieles erschwert. Aber wir haben doch nie erwartet, dass das, was wir vorhaben, konfliktlos sein soll. Die Idee war ja, einen Ort zu schaffen, an dem genau das verhandelt wird: Wie kann man über vermeintliche Gräben und Konfliktlinien hinweg zusammenarbeiten? In der Gesellschaft draussen scheint das oft leider unmöglich zu sein.
Es gab viel internationale Anerkennung, gut besuchte Gastspiele, Preise. Wieso haben in Zürich die Zahlen bis zuletzt nicht gestimmt?
Stemann: Wir hatten gerade in der letzten Saison weitaus weniger Publikum, als wir uns erhofft haben – das ist natürlich superschade, vor allem weil gerade in dieser Spielzeit künstlerisch unglaublich viel gelungen ist. Es hat bei fast allen Kulturinstitutionen zwischen Athen und Oslo gedauert, bis das Publikum nach der Pandemie zurückkam. Wir hatten aber dennoch viele Zuschauerinnen und Zuschauer – junge und alte – voller Enthusiasmus. Unsere Finanzen hätten allerdings beim letzten Geschäftsbericht deutlich weniger negativ ausgesehen, wenn die Corona-Rückstellungen schneller aufgelöst worden wären.
Wieso?
Stemann: Hätte man da so gehandelt wie etwa bei der Oper Zürich, dem Theater Basel oder allen mir bekannten deutschen Stadttheatern – die alle diese Gelder schon in der letzten Saison verwenden durften –, dann hätten wir gar kein Defizit gehabt. Stattdessen hat sich die Entscheidung immer wieder verzögert, und schliesslich wurden uns diese Gelder nur zu einem Teil zugesprochen und zu spät, als dass sich dies noch im Geschäftsbericht hätte abbilden können. Warum das so war – keine Ahnung, ehrlich gesagt.
v. Blomberg: Es geht uns nicht darum, Zahlen zu verschleiern. Worauf wir hinweisen wollen, ist, dass Zahlen auch gemacht werden. Die Kontextualisierung hat uns gefehlt: konkret, dass die letzte Saison noch von Nachwehen der Corona-Pandemie belastet war und dafür Rücklagen vorhanden waren. Auch ging unter, dass die strukturellen Defizite des Hauses nichts mit unserer Intendanz zu tun haben, sondern schon lange auf der Pendenzenliste des Verwaltungsrats stehen und 2022 zum Antrag auf Subventionserhöhung geführt haben. Die letzte Subventionserhöhung, die einen Gemeinderatsbeschluss notwendig machte, war 2010 – für ein neues Lohnregulativ fürs technische Personal. Bei den seither erfolgten Erhöhungen handelt es sich um Teuerungsausgleichszahlungen und höhere Sozialversicherungsprämien.
Stemann: Uns wurde eine Vertragsverlängerung in Aussicht gestellt, doch dann drehte der Wind sehr plötzlich. Die öffentliche Debatte erhitzte sich im Wahlkampf stark, es gab rechtspopulistische Kritik, und dann wurde dieses Angebot plötzlich zurückgezogen. Ich glaube, für alle Beteiligten war die Situation sehr komplex. Es ist schade, dass es nicht geklappt hat. Aber nun plane ich bereits einige Projekte mit der Unbeschwertheit eines freien Regisseurs.
v. Blomberg: Ich freue mich darüber, dass die Öffnung des Hauses mit Pınar Karabulut und Rafael Sanchez weitergehen wird. Künstlerisch wird das anders werden, aber auch sie werden versuchen, Traditionslinien zu bewahren und die Engführung von Alt und Neu fruchtbar werden zu lassen.
Haben Sie sich daher Frischs Klassiker «Biedermann und die Brandstifter» ausgesucht, der vor 66 Jahren am Pfauen uraufgeführt wurde?
Stemann: Wir haben uns immer zur Geschichte des Hauses bekannt. Und beim Wiederlesen war ich beeindruckt, wie handwerklich wasserdicht, wie lustig und abgründig das Stück ist – und auch, wie aggressiv. Es eignet sich sehr gut als Abschiedsgeschenk. Wie explosiv dieses wird, werden wir sehen.
Inwiefern explosiv?
Stemann: Frisch leuchtet im Stück die dunkle Seite des Kapitalismus aus. Im Stück sagt der Chor: Der Bürger sei «hart im Geschäft, sonst aber Seele von Mensch» – sehr treffend. Biedermann wird als rücksichtsloser Geschäftsmann gezeigt, der einen Angestellten in den Tod treibt, während er behauptet, nicht an Klassenunterschiede zu glauben und ganz liberal gesinnt zu sein.
v. Blomberg: Max Frisch hat diese Verleugnungen schon sehr genau beobachtet.
Stemann: Das Drama beschreibt das Auslagern von Leid. Man will es nicht sehen, nicht verantwortlich sein. Die Schweiz und der Westen agieren bis heute so. Es brennt buchstäblich die Welt, aber eine Beteiligung an diesen Bränden wird geleugnet und verdrängt. Stattdessen wärmt man sich moralisch an Theaterbränden. Eventuell kann man die Deutung sogar weiterdrehen: War die Naivität Biedermanns gegenüber seinem eigenen Bösen und den Brandstiftern womöglich nur vorgeschoben?
Was meinen Sie damit?
v. Blomberg: Man kommt gar nicht umhin, festzustellen, dass in der Gegenwart der Brand oft am Anfang von Wertschöpfung steht. Die brennenden Regenwälder zum Beispiel bedeuten für viele Lebewesen den Totalverlust ihres Lebensraums, aber für andere Menschen Profit. Biedermann entscheidet sich, wegzuschauen, nicht zu handeln, vermeintlich neutral zu bleiben.
Vermeintliche Neutralität?
v. Blomberg: Biedermanns Haltung ist es, keine Haltung zu zeigen. Und um diese Art der Neutralität rankt sich in der Schweiz ja durchaus ein Mythos. Wie neutral ist neutral? Ist Neutralität ein moralischer Kompass, Konfliktvermeidung oder doch knallharte Geschäftsmaxime zur Profitmaximierung, also ganz gewiss ein Spiel mit dem Feuer? Im konkreten Umgang ist hierzulande der Wunsch nach Konfliktvermeidung jedenfalls sehr ausgeprägt.
Aber «Wokeness» wurde Ihnen sehr direkt vorgeworfen, auch von Leuten aus dem Stammpublikum. Es hiess: Da steckt zu viel Ideologie drin, zu viel linker Zeigefinger, zu wenig Texttreue.
Stemann: Ich halte das Stichwort «woke» nicht wirklich für treffend für unsere Intendanz. Da wurde viel projiziert. Einige Rechte haben uns ausgewählt, um ihren Kulturkampf auszutragen. Da ging es gar nicht um uns.
v. Blomberg: Und schon gar nicht um zu viel oder zu wenig Texttreue! Aber, ach, ich bin einfach einmal froh über die Zuschreibung «woke», denn im Kern heisst das: Wir sind wach und bereit, uns Veränderungen zu öffnen. Dass man noch nicht auf alles Antworten hat, gehört dazu. Mit Ideologie hat das nichts zu tun.
Stemann: Es geht darum, Diskriminierung zu thematisieren – und vor allem um Gerechtigkeit. Privilegienverteilung ist ein relevantes Thema. Das ist für Menschen, die gewohnt sind, Privilegien zu haben, immer extrem schmerzhaft und verstörend. Auch für mich, wenn es etwa hiess: «Du bist doch der alte weisse Mann!» Ich finde es aber völlig falsch, solche – äusserst schmerzhaften – Prozesse abzublocken und die Kritik als neumodische Idee abzukanzeln. Die Chance eines Theaterbetriebs ist ja, dass man mit solchen Konflikten anders umgehen kann. Das ist nicht immer geglückt, es gab Missverständnisse, Verzettelungen. Aber wir spüren, dass sich zunehmend etwas bewegt.
v. Blomberg: Diese Prozesse brauchen Zeit. Das ist nichts Neues, ich sage es für die Zukunft trotzdem. Auch weil es am Ende nicht nur um Konzepte, sondern auch um Menschen geht.
Beim «Publikumsgipfel» forderte ein unzufriedener Stammgast den «Samowar im Tschechow».
Stemann: Theater findet immer im Spannungsfeld aus Tradition und Neuerung statt, und das ist es auch, was mich selbst künstlerisch sehr interessiert. Nur für eine bestimmte Generation oder Schicht zu spielen, war nie die Intention. Das Schönste ist, wenn das Publikum schliesslich die gleiche Entdeckerfreude erlebt wie wir.
Premiere «Biedermann und die Brandstifter» 21. März, Pfauen.
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