Arbeitsmarkt-Experten zur Streitfrage Mehr Geld für Angestellte mit mittlerem und tiefem Lohn – gefährdet das die Schweiz?
Die Gewerkschaften wollen deutlich höhere Mindestlöhne, Avenir Suisse sieht das Schweizer Erfolgsmodell gefährdet. Wir haben Ökonomen zur Debatte befragt.
Am Dienstag startete der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) angesichts der wachsenden Teuerung eine wuchtige Lohnoffensive: Die Gewerkschaften fordern, dass schweizweit keine Löhne mehr unter 4500 Franken liegen, mit einer Berufslehre sollen es bei Vollzeit mindestens 5000 Franken brutto sein. Damit soll Menschen mit tiefen und mittleren Einkommen unter die Arme gegriffen werden.
Heute veröffentlicht die liberale Denkfabrik Avenir Suisse einen Bericht, der sich wie eine Antwort auf die Forderung der Gewerkschaften liest und genau in die Gegenrichtung weist. Die zunehmenden staatlichen Eingriffe in die Lohnbildung kämen nicht den Arbeitnehmenden zugute, der neue Lohnschutz gefährde «das Fundament des Schweizer Erfolgsmodells».
Der «Mythos vom liberalen Arbeitsmarkt» entspreche immer weniger der Realität, stellt Avenir Suisse fest. Stattdessen finde eine «Vergewerkschaftung» des Schweizer Arbeitsmarktes statt. Die freie Lohnfestsetzung im Betrieb werde vor allem durch die rasche Vermehrung der allgemein verbindlichen Gesamtarbeitsverträge (GAV) erschwert.
Der Bundesrat und die Kantone können den Wirkungsbereich eines GAV auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmenden eines spezifischen Berufes oder Wirtschaftszweigs in einem Kanton oder der gesamten Schweiz ausdehnen. Durch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung werden so auch Firmen und Beschäftigte erfasst, die nicht Mitglied in einem Verband oder einer Gewerkschaft sind.
Dieses Instrument wurde in den vergangenen Jahren ausgiebig genutzt: Seit 2003 hat sich die Zahl der Arbeitnehmenden, die schweizweit einem allgemein verbindlichen GAV mit Mindestlohn unterstellt sind, mehr als verdreifacht.
Kantonale Mindestlöhne sind en vogue, obwohl die Stimmbevölkerung in einer nationalen Volksabstimmung vor acht Jahren einem nationalen Mindestlohn von damals 4000 Franken eine klare Abfuhr erteilt hatte. Die Kantone Neuenburg, Jura, Genf, Basel-Stadt und Tessin haben inzwischen einen Mindestlohn festgesetzt. Er liegt zwischen 19 Franken (Tessin) und 23.27 Franken (Genf) pro Stunde brutto, was rund 4000 Franken entspricht. Auch die Städte Zürich und Winterthur wollen Mindestlöhne einführen.
Mit der Forderung von mindestens 4500 Franken, was rund 25 Franken Stundenlohn entspricht, geht der Gewerkschaftsbund nun deutlich über die bisher gültigen Mindestlöhne hinaus.
«Deutsche würden an der Grenze Schlange stehen bei einem solchen Mindestlohn.»
«Dass die Gewerkschaften höhere Löhne fordern und sich für Arbeitnehmende einsetzen, ist ihre Aufgabe. Das ist richtig und wichtig, etwa weil es die Lohnungleichheit reduziert», sagt Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktexperte der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF). Die neuen Forderungen findet er allerdings «recht hoch gegriffen». In Regionen wie dem Jura oder dem Tessin wäre das substanziell mehr als das aktuelle Lohnniveau und könnte dort zu Jobverlusten führen, weil sich das einige Unternehmen möglicherweise nicht leisten könnten.
Die Forschung über die Folgen von Mindestlöhnen kommt nicht zu einheitlichen Schlüssen. Unbestritten ist jedoch die Feststellung, dass, je höher die Mindestlöhne, desto eher mit Beschäftigungseinbussen zu rechnen ist. «Je mehr Arbeitnehmende von einem Mindestlohn betroffen sind, desto stärker könnte das die Beschäftigung beeinträchtigen», sagt George Sheldon, emeritierter Professor für Arbeitsmarktökonomie an der Universität Basel.
Bei der Abstimmung über einen Mindestlohn von 4000 Franken im Jahr 2014 wären etwa 9 Prozent aller Arbeitnehmenden betroffen gewesen. Bei einem Mindestlohn von 5000 Franken wären es weit mehr, schätzungsweise um die 20 Prozent. «Das hätte negative Auswirkungen auf die Beschäftigung, vor allem für Berufseinsteiger und schwach Qualifizierte», so Sheldon. «Und ich denke, Deutsche würden an der Grenze Schlange stehen bei einem solchen Mindestlohn.»
Gemäss Avenir Suisse verursacht der Lohnschutz mehr Schaden als Nutzen. Die Wirtschaftspolitik müsse darum besorgt sein, «dass produktive Arbeitsplätze geschaffen und eine hohe Arbeitsmarktpartizipation erreicht wird». Ein starker Lohnschutz helfe «wenig bis nichts, diese Ziele zu erreichen». Er belaste stattdessen den Faktor Arbeit direkt durch Mindestlöhne und indirekt durch administrative Hürden. «Die bewährte Lohnpolitik im Rahmen der Sozialpartnerschaft sollte nicht weiter ausgehöhlt werden.»
Mindestlöhne sind für die Armutsbekämpfung wenig geeignet
Begründet werden Mindestlöhne in der Regel mit der Armutsbekämpfung. Dass man Erwerbsarmut, «Working Poor», vermeiden möchte, sei verständlich und ein allgemein anerkanntes Ziel, sagt George Sheldon, «aber dafür ist der Mindestlohn ungeeignet».
Das sieht auch Michael Siegenthaler so. «Viele Arme sind arm, weil sie nicht oder kaum arbeiten. Sie erreicht man mit einem Mindestlohn nicht.» Eine Folge von Mindestlöhnen sei auch, dass die Preise anstiegen und Konsumentinnen und Konsumenten mehr bezahlen müssten – was wiederum auch die Geringverdienenden treffen würde.
Avenir Suisse ist deshalb der Meinung, Einkommenssicherung sollte «über bedarfsorientierte Sozialtransfers und nicht über Eingriffe in die Lohnbildung erfolgen».
Für Avenir Suisse ist nicht der staatliche Lohnschutz verantwortlich für die überdurchschnittlich hohen Schweizer Löhne, sondern produktive Arbeitsplätze, eine hohe Erwerbsquote, die arbeitsmarktorientierte Bildungsstruktur und «ein flexibler Arbeitsmarkt mit bewährter Sozialpartnerschaft».
Die Wichtigkeit der Produktivität betonen auch die Arbeitsmarktexperten. «Der Wohlstand der Schweiz ist eine Folge der hohen Produktivität», sagt George Sheldon, «die Löhne sind hoch, weil die Unternehmen eine hohe Wertschöpfung erzielen.» Der Druck der Gewerkschaften könne die Verteilung beeinflussen, aber nicht Wohlstand herbeiführen, so Sheldon: «Der Kuchen wird etwas anders verteilt, aber er wird dadurch nicht grösser.» Die Löhne steigen, wenn ein Land oder eine Firma produktiver wird, also die Arbeitnehmenden pro Stunde mehr Waren oder Dienstleistungen produzieren oder deren Wert steigt.
Michael Siegenthaler anerkennt jedoch auch die Rolle der Gewerkschaften: «Ihr Einfluss ist zentral, damit die Löhne – gerade jene am unteren Ende der Lohnverteilung – wirklich Schritt halten mit der Produktivität, die Arbeitgeber nicht zu mächtig werden und die wachsenden Margen nicht einfach zu den Kapitaleignern und Managerinnen abfliessen.»
Die Produktivität setze die Limite nach oben, und die Gewerkschaften beeinflussten in den Verhandlungen, wie weit der Lohn unter diese Limite zu liegen komme. Allerdings verlieren die Gewerkschaften seit Jahren Mitglieder. Sie seien jedoch wichtig, damit es nicht zu riesigen Lohnspreizungen komme, so Siegenthaler: «Sie halten die Gesellschaft zusammen.»
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