Gleichstellung von Behinderten SBB planen schweizweiten Taxiservice, um grosses Versäumnis auszugleichen
Die Bahn hatte über 20 Jahre Zeit, um alle ihre Haltestellen behindertengerecht umzubauen. Das hat sie bei weitem nicht geschafft. Jetzt richtet sie einen Ersatzservice ein.
Die SBB und alle anderen Verkehrsunternehmen der Schweiz wussten seit 2002, dass sie auf Ende 2023 alle ihre Eisenbahnhaltestellen und Züge so anpassen müssen, dass Gehbehinderte sie «autonom und spontan» benutzen können.
Allerdings werden innert Frist 541 der total 1800 Stationen nicht umgebaut sein. 300 davon werden von den SBB betrieben. Die Bahnhöfe Bülach, Kloten (beide ZH), Pfäffikon SZ und Romanshorn TG werden sogar erst 2035 entsprechend nutzbar sein, ist dem neusten Standbericht des Bundesamts für Verkehr (BAV) zu entnehmen.
Taxi muss zwei Stunden im Voraus bestellt werden
Als Ersatz für ihr Versäumnis planen die SBB nun verschiedene Massnahmen. Unter anderem soll ein Taxiservice zum Einsatz kommen. Die SBB haben auf der öffentlichen Beschaffungsplattform Simap eine Ausschreibung gestartet: «Bei noch nicht umgebauten Bahnhöfen oder nicht zugänglichen Haltestellen werden die Kunden bis zur nächsten zugänglichen Haltestelle mit einem Behindertenfahrdienst transportiert.» Nun suche man Partner für die Beförderung.
«Der Strassentransport muss mindestens zwei Stunden im Voraus über das Callcenter Handicap bestellt werden», schreibt eine Sprecherin auf Nachfrage. «Es handelt sich um einen Strassentransport vom Bahnhof, welcher keinen stufenfreien Zugang zum Perron hat oder bei dem das Perron zu schmal für die Hilfestellung mittels Mobilift (mit dem Rollstuhlfahrer in den Zug einsteigen können; die Red.) ist, zum nächsten barrierefreien Bahnhof.»
Wo dies dagegen gewährleistet ist, kommt kein Taxi zum Einsatz, sondern helfen Bahnangestellte den gehbehinderten Passagieren. Dabei handelt es sich laut der SBB-Sprecherin um rund 210 Haltestellen, das Taxi wird also an 90 zum Einsatz kommen.
Wie das Ganze organisiert werde, ob eine nationale Steuerung erfolge und wie gross die Flotte sei, sei noch unklar. Das sei Gegenstand der Ausschreibung, schreibt die Sprecherin. Auch über die Kosten, die man ungefähr erwarte, macht sie keine Angaben.
Die SBB übernehmen die Aufgabe nicht nur für die eigenen Bahnhöfe, sondern führen das im Mandat für die ganze Branche aus. Noch in diesem Frühling müssen alle Verkehrsunternehmen für Haltestellen, die bis Ende Jahr nicht behindertengerecht umgebaut werden können, gegenüber dem BAV Bericht erstatten. Das Amt werde dies dann stichprobenartig prüfen und den Bahnen ein Feedback dazu geben, schreibt ein BAV-Sprecher.
«Von autonom und spontan kann hier also keine Rede sein.»
Vom Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap gibt es keinen Applaus für das Taxiprojekt. «Die SBB und die anderen Verkehrsunternehmen sind rechtlich zu solchen Massnahmen verpflichtet, bis sie die Bahnhöfe umgebaut haben», sagt Caroline Hess-Klein, Abteilungsleiterin Gleichstellung.
Grundsätzlich sei eine Taxilösung im Vergleich zur Möglichkeit, mit dem öffentlichen Verkehr zu reisen, jedoch minderwertig: Sie grenze Gehbehinderte aus, weil sie allein im Taxi reisen müssten, und zwinge sie zum Umsteigen, sagt Hess.
Ausserdem sei es nach wie vor diskriminierend, wenn man vor einer Reise zwei Stunden aufs Taxi warten müsse und auf fremde Hilfe angewiesen sei. «Von autonom und spontan kann hier also keine Rede sein.»
Bei 140 Stationen lohnt sich der Umbau nicht
Grundsätzlich sieht das Behindertengleichstellungsgesetz, das 2002 beschlossen und 2004 eingeführt wurde, keinen Sanktionsmechanismus durch das BAV vor, wenn Ziele nicht erreicht werden. Allerdings beinhaltet es ein Klage- und Verbandsbeschwerderecht für die Behindertenorganisationen. Ob man rechtliche Schritte in Erwägung ziehe, kann Hess-Klein noch nicht sagen: «Zurzeit kennen wir zu wenig Details über die Pläne der SBB, um sie zu beurteilen. Wir wurden nicht in die Planung mit einbezogen.»
Neben den 541 Stationen, die bis spätestens Mitte der 2030er-Jahre umgebaut werden, werden 140 nicht angepasst. Bei ihnen hält es das BAV für «unverhältnismässig, weil unter anderem das Passagieraufkommen im Verhältnis zu den Kosten nur sehr klein ist.» Hier müssen dauerhaft Ersatzmassnahmen angeboten werden. Im Vordergrund steht auch hier die Hilfestellung durch Bahnpersonal.
Die Versäumnisse der letzten Jahre erklärt die SBB-Sprecherin damit, dass die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes einerseits komplexer sei als anfangs angenommen. «Andererseits haben zwischenzeitlich präzisierte Anforderungen an barrierefreie Bahnhöfe dazu geführt, dass die SBB mehr Bahnhöfe umbauen muss als ursprünglich verlangt, anstatt 150 Bahnhöfe über 400.»
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