Sanitas-Chef im Interview«Wer sich viel bewegt und ein gesundes Gewicht hat, soll Geld zurückerhalten»
Jeder spart für sich, um Behandlungen zahlen zu können – wie in Singapur: Andreas Schönenberger über Eigenverantwortung und Belohnungen für einen gesunden Lebensstil.
Für einen Krankenkassenchef hat Andreas Schönenberger einen ungewöhnlichen Werdegang. Der Physiker war unter anderem Manager bei Google und Salt, bevor er 2019 zur Sanitas wechselte. Für Schlagzeilen sorgt, dass er deutlich mehr verdient als alle anderen Krankenkassen-CEOs. Im Interview nimmt er dazu Stellung und lanciert provokative Ideen, wie er das Schweizer Gesundheitssystem umbauen würde.
Herr Schönenberger, manche Menschen wechseln jährlich zur günstigsten Krankenkasse, andere bleiben trotz Aufschlägen immer bei der gleichen. Zu welcher Sorte gehörten Sie, als Sie noch nicht Sanitas-Chef waren?
Ich gehöre zu den Loyalen. Ich war sehr lange in der Krankenkasse meiner Eltern, wechselte dann in das Kollektiv meines damaligen Arbeitgebers und bin jetzt bei Sanitas.
Die Krankenkassen schlagen nun bereits zum dritten Mal in Folge um 6 Prozent oder mehr auf. Wie erklären Sie das einer Familie, die schon heute nicht mehr weiss, wie sie ihre Rechnungen bezahlen soll?
Das ist tatsächlich ein grosses Problem. Grund dafür sind die stark steigenden Gesundheitskosten. Dabei gibt es verschiedene Treiber, bei welchen man ansetzen müsste.
Woran denken Sie?
Etwa an die über 250 Spitäler, die wir in der Schweiz haben. Oder an die Fehlanreize, die zu unnötigen Behandlungen führen. Auch steckt die Digitalisierung hierzulande noch in den Kinderschuhen. Und es gibt Versicherte, die sich sagen: Wenn ich hohe Prämien zahlen muss, will ich auch etwas zurück. Das ist aber nicht der Sinn einer Versicherung.
«Singapurs Gesundheitssystem könnte ein Vorbild für die Schweiz sein.»
Angenommen, Sie könnten das Schweizer Gesundheitssystem auf einem weissen Blatt Papier neu entwerfen: Von welchem anderen Land würden Sie sich inspirieren lassen?
Man kann nie ein Modell eins zu eins übernehmen, es gilt die Eigenheiten unseres Landes zu berücksichtigen. Aber Singapurs Gesundheitssystem könnte ein Vorbild für die Schweiz sein. Dort wird die Eigenverantwortung grossgeschrieben. Jede Person hat ein eigenes Gesundheitskonto, auf das monatlich ein Prozentsatz des Lohns fliesst. Erst bei grösseren Eingriffen kommt eine Pflichtversicherung zum Zug, vergleichbar mit unserer Grundversicherung.
Jeder und jede würde also ins eigene Kässeli sparen. Wer mehr verdient, hätte mehr Geld für Gesundheitsbehandlungen. Was gefällt Ihnen daran?
Bei kleineren Eingriffen und Behandlungen würden sich die Menschen viel stärker fragen: Was bekomme ich, und was zahle ich dafür? Der Patient könnte Offerten von verschiedenen Spitälern einholen und entscheiden, wo das Kosten-Nutzen-Verhältnis am besten ist. Diese Eigenverantwortung würde dem ganzen System guttun. Die Anbieter wären gezwungen, Transparenz zu schaffen: Wie oft führen sie eine bestimmte Operation durch, wie häufig kommt es dabei zu Komplikationen? Heute gibt es noch zu wenig Anreize, dies offenzulegen.
Das Nachsehen hätten chronisch Kranke und Geringverdienende. Ist das nicht asozial?
Für die sozial Schwachen gibt es in Singapur einen Staatsfonds, der aus Steuereinnahmen gespeist wird. Selbstverständlich braucht es eine solche Abfederung. Mir gefällt auch, dass man das individuell gesparte Guthaben innerhalb der Familien teilen und vererben kann.
Ist der Grossvater vor seinem Tod weniger lang in Behandlung, haben seine Nachkommen also mehr Geld zur Verfügung. Ist das ethisch nicht problematisch?
Ich sehe es positiv, wenn das gesparte Gesundheitsbudget nicht einfach verfällt. Ich kenne Beispiele von hochbetagten Menschen, die noch sehr intensiv medizinisch behandelt wurden, obwohl sie das eigentlich gar nicht mehr wollten. In solchen Fällen kann es sinnvoll sein, auf eine teure Weiterbehandlung zu verzichten, die das Leben nur wenig verlängert, und das Geld stattdessen zu vererben. Aber damit sind natürlich schwierige ethische Diskussionen verbunden, die wir zuerst als Gesellschaft führen müssen.
«Eine Mehrklassenmedizin kann sogar positiv sein für die Gesellschaft.»
Im internationalen Vergleich ist die Kostenbeteiligung der Versicherten in der Schweiz schon heute hoch. Ist es da zumutbar, noch mehr aus dem eigenen Sack zu bezahlen?
Es stimmt: In der Schweiz ist die Eigenverantwortung höher als anderswo, aber tiefer als in Singapur. Es ist eine gesellschaftspolitische Frage, wie viel unser Gesundheitswesen kosten soll und wie wir die Kosten aufteilen. Für mich ist klar: Mechanismen der Eigenverantwortung sind grundsätzlich kosteneffizienter, sie bedingen aber Transparenz.
Der Preis dafür wäre eine Vielklassenmedizin.
Ich sehe das nicht negativ. Eine Mehrklassenmedizin kann sogar positiv sein für die Gesellschaft. Angenommen, es gibt für eine Erkrankung ein Medikament, das sehr teuer und in der Schweiz noch nicht zugelassen ist. Wer genug Geld hat, probiert das vielleicht aus und merkt, dass es wirkt – dann setzt es sich für alle durch. Mir kommt ein Vergleich mit der Autoindustrie in den Sinn: Früher hatten nur teure Autos Klimaanlagen. Dann stellte sich heraus: Das ist ein echter Benefit – und plötzlich wurden auch günstigere Modelle damit ausgerüstet.
Sie denken offensichtlich nicht zum ersten Mal über dieses Thema nach. Sind Sie mit Branchenkollegen oder Exponenten aus Wirtschaft oder Politik im Gespräch?
Ja, es gibt eine Gruppe vom Thinktank Avenir Suisse, die an diesen Ideen arbeitet. Da sind Leute aus verschiedenen Bereichen dabei, beispielsweise Mediziner, Leute von Leistungserbringern, der Pharmabranche, der Versicherungsindustrie und aus der Technologie. Wir alle finden: Es braucht jetzt einen gemeinsamen Effort, um das Problem der Kostensteigerung zu lösen. Klar ist: Erst wenn alle relevanten Player an einem Tisch sitzen, können wir wirklich etwas erreichen.
Bereits vor 14 Jahren hat ein SVP-Nationalrat das Singapur-Modell im Parlament zum Thema gemacht. Der Vorschlag blieb chancenlos. Glauben Sie, dass das heute anders wäre?
Es ist schwierig, wenn man ein System fundamental ändern will. Ich glaube aber, die Schweiz hat mit dem jetzigen System eine gute Ausgangslage. Die heutige Franchise entspricht bereits dem Modell der Eigenverantwortung. Eine Idee wäre, sie zu erhöhen und Anreize zu setzen, damit sich die Leute ein Gesundheitsbudget ansparen. Dabei muss es aber eine Unterstützung für die sozial Schwachen geben. Denkbar wäre auch eine Verknüpfung mit der Säule 3a.
Wie wollen Sie das erreichen?
Ich denke, es braucht Politiker, die den Mut haben, diese neuen Ideen einzubringen.
Haben Sie sie schon gefunden?
Wir sind mit vielen im Gespräch. Ich glaube, dass einige dies nun angehen wollen.
Sind Sie Mitglied einer Partei?
Nein.
Vor Ihrer Zeit bei Sanitas waren Sie Manager bei Google und Salt. Was kann die Gesundheitsbranche von der Tech- oder der Telecombranche lernen?
Bei Sanitas haben wir die ganze IT-Architektur neu aufgesetzt. Die meisten Kundenanliegen können inzwischen digital beantwortet werden. Meldet sich eine Person für die Zusatzversicherung an, können wir ihren Gesundheitszustand datenbasiert analysieren und ihr dann eine passende Offerte machen. Falls die Person eine Vorerkrankung hat, kann sie wählen, ob sie einen Vorbehalt will – oder eine Volldeckung und dafür eine etwas höhere Prämie. Auf diese Innovation sind wir stolz.
Viele Menschen tracken heute ihren Schlaf, ihren Puls, ihr Gewicht, ihren Zyklus. Welche Rolle werden diese Daten künftig in unserem Gesundheitssystem spielen?
Grundsätzlich wird die Prävention einen wichtigeren Stellenwert erhalten – auch dank der modernen Trackingmöglichkeiten. Mit ihnen lässt sich direkt überprüfen, wie sich mehr Bewegung oder eine Gewichtsabnahme auf die eigenen Gesundheitswerte auswirkt. Möglicherweise müssen die Leute weniger zum Arzt oder können früher aus dem Spital entlassen werden, weil man ihre Vitalfunktionen technisch überwachen kann.
Bei gewissen Zusatzversicherungen gibt es schon heute Rabatt für Menschen, die ihre Schritte tracken. Wird es noch stärker in diese Richtung gehen?
Bis zu einem gewissen Grad macht es sicher Sinn, einen gesunden Lebensstil zu belohnen. In der Grundversicherung dürfen wir das heute nicht.
Soll sich das ändern?
Es lohnt sich sicher, das Thema ganzheitlich anzugehen. Wer sich viel bewegt und ein gesundes Gewicht hat, soll Geld zurückerhalten. Man könnte einen Prozentsatz der Grundversicherung in einen dafür vorgesehenen Fonds fliessen lassen oder es ähnlich wie die Prämienverbilligung finanzieren. Aber ich würde es nicht vermischen mit dem Versicherungsgeschäft, das für den Krankheitsfall da ist.
Sanitas ist auch im Metaverse tätig. Werden da nicht Prämiengelder verpulvert?
Neue Technologien haben immer das Potenzial, einen Mehrwert für die Kunden zu schaffen. Natürlich wird das Angebot bislang nur von einem kleinen Teil der Versicherten genutzt. Aber die Kosten waren mit einigen Tausend Franken recht überschaubar.
Fast jede Krankenkasse entwickelt ihre eigene App. Ist das effizient?
Jeder Versicherer hat eine eigene Strategie und eigene Produkte. Da ergibt es Sinn, sich auch über die App zu differenzieren.
Aber braucht es so viele Apps, braucht es so viele Krankenkassen?
Es ginge in der Schweiz sicher auch mit weniger Krankenkassen.
Auf wie viele der heute fast 40 Kassen könnte man denn verzichten?
Dies wird der Wettbewerb zeigen. Gut möglich, dass es am Ende noch ein oder zwei Dutzend sein werden.
«Der Einfluss der Cheflöhne auf die Prämien ist minimal.»
Umfragen zufolge stösst die Idee einer Einheitskasse in der Bevölkerung auf Sympathien. Wird sie Realität, wenn es mit dem Prämienwachstum so weitergeht?
Ich hoffe es nicht. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass sich das Kostenproblem so lösen lässt. Das Gegenteil ist der Fall. Heute haben die Krankenkassen aufgrund des Wettbewerbs einen Anreiz, innovativ zu sein und die Kosten zu senken. Bei einem Monopol fällt dies weg.
Sie verdienen mit Abstand am meisten unter den Krankenkassenchefs – fast eine Million Franken pro Jahr, wenn man die Pensionskassenbeiträge hinzuzählt. Machen Sie Ihre Arbeit so viel besser als die CEO der deutlich grösseren Kassen CSS und Helsana?
Die Löhne der Geschäftsleitung legt der Verwaltungsrat fest. Und der Einfluss der Cheflöhne auf die Prämien ist minimal. Auch die gesamten Verwaltungskosten der Krankenkassen werden in der Regel überschätzt. Sie machen gerade mal fünf Prozent des Prämienvolumens aus.
Es gibt Parlamentarier, die sagen, es gehe nicht an, dass ein Krankenkassenchef doppelt so viel verdiene wie ein Bundesrat.
Da werden Äpfel mit Birnen verglichen. Wenn man bei den Bundesräten wie bei uns den Pensionsanteil hinzuzählt, verdienen sie mehr als eine Million.
Das Parlament prüft nun eine Deckelung der Krankenkassenchefsaläre. Stört Sie das?
Es ist das falsche Signal, aber das Parlament kann dies natürlich tun, wenn es das für gut befindet.
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