Russische Nukleardrohung«Wenn Putin das wirklich ernst meinen würde, wären wir schon im Atomkrieg»
Russland erweitert die Liste der militärischen Bedrohungen, gegen die Atomwaffen zur Abschreckung genutzt werden können. Wahr machte Putin seine Drohungen bislang nicht.
- Wladimir Putin kündigt eine Überarbeitung der Nukleardoktrin Russlands an.
- Die Bedrohungsliste für den Einsatz von Atomwaffen soll erweitert werden.
- Experten sehen die Drohungen als Versuch, westliche Länder einzuschüchtern.
- Kiew betont, dass Russlands nukleare Erpressung nicht erfolgreich sein werde.
Das Fernsehen hat übertragen, natürlich. Immerhin sprach der Präsident. Die Botschaft, die Wladimir Putin vor dem russischen Sicherheitsrat präsentierte und die ins ganze Land hinausgetragen wurde, war allerdings gar nicht primär für die Russen bestimmt. Das, was Putin erklärte, war vor allem nach aussen gerichtet, an die westlichen Partner der Ukraine, die gerade diskutieren, ob sie dem angegriffenen Land erlauben sollen, mit westlichen Raketen auch Ziele tief auf russischem Territorium anzugreifen. (Lesen Sie zum Thema auch den Kommentar «Die Ukraine muss sich verteidigen dürfen».)
Putin also sagte, Russland werde seine Nukleardoktrin überarbeiten und «der gespannten internationalen Lage anpassen». Die Liste militärischer Bedrohungen, gegen die Atomwaffen zur Abschreckung genutzt werden können, soll erweitert werden.
«Eine Aggression gegen Russland durch einen Nicht-Kernwaffenstaat, aber mit Beteiligung oder Unterstützung eines Kernwaffenstaats soll als gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation betrachtet werden», sagte Putin. Der Einsatz von Atomwaffen sei demnach auch möglich, wenn die Existenz Russlands durch Angriffe auch mit konventionellen Waffen bedroht sei.
Der Präsident nannte als mögliches Beispiel massive Luftangriffe mit Kampfflugzeugen, Marschflugkörpern, Drohnen, Hyperschallwaffen und anderen Flugobjekten. Festgelegt worden sei aber auch, dass der Einsatz von Nuklearwaffen die «äusserste Massnahme zum Schutz der staatlichen Souveränität» sei.
Moskaus rote Linien, die stets überschritten wurden
Derartige Drohungen mit Verweis auf das russische Atomwaffenarsenal waren aus Russland im Verlauf der vergangenen Kriegsjahre immer wieder zu hören – kurz nach dem Beginn des Angriffskriegs im Februar 2022 meistens von Putin selbst, dann immer öfter von seinen Scharfmachern. Und in der Regel gerade dann, wenn im Westen über die Lieferung neuer Waffen an die Ukraine diskutiert wurde.
Immer wieder zeichnete Moskau rote Linien, immer wieder wurden sie überschritten. Wahr machte Putin seine Drohungen bislang nicht. Die Nato und die meisten Beobachter im Westen halten auch die neuen Drohungen für einen Versuch, die westlichen Nuklearmächte davon abzuhalten, der Ukraine zu helfen.
Das sei «das Übliche», sagt beispielsweise Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte beim internationalen Institut European Council on Foreign Relations. «Wenn Putin das wirklich ernst meinen würde, wären wir ja schon im Atomkrieg», meint Gressel. Denn laut russischer Rechtsauffassung seien vier ukrainische Oblaste – Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja – und die Krim russisches Staatsgebiet. «Selbst eine defensive Präsenz ukrainischer Truppen dort wäre demnach ein von den USA unterstützter Angriff.» Russlands Nukleardoktrin sei bereits in der Vergangenheit recht flexibel gewesen.
«Wenn Russland praktischen Wert in einem Kernwaffeneinsatz gesehen hätte, hätte es diesen bereits unter den alten Bedingungen rechtfertigen können», glaubt Gressel. Er sieht die aktuellen Drohungen vor allem als «Zeichen der Schwäche des Westens», als Zeichen dafür, dass der Kremlchef die Entschlusskraft der Ukraine-Unterstützer anzweifelt. Putin erhoffe sich keine Gegenwehr und maximale Aufmerksamkeit.
Selenski fordert reichweitenstarke Waffen
Dazu passt, dass Putins Auftritt im russischen Sicherheitsrat kurz vor dem an diesem Donnerstag in den USA geplanten Treffen von US-Präsident Joe Biden mit dem ukrainischen Staatschef Wolodimir Selenski stattfand. Selenski wird auch bei diesem Treffen wieder die Freigabe reichweitenstarker Waffen fordern. (Lesen Sie zum Treffen Selenski - Biden auch den Artikel «Was steckt hinter Selenskis ‹Siegesplan›?»)
Laut Gressel wäre das richtig und wichtig: «Der russische Angriffskrieg ist illegal und illegitim. Der Ukraine stehen alle legalen Mittel der Verteidigung zu, genauso wie allen Staaten nach der Charta der Vereinten Nationen das Recht zustehe, die Ukraine darin zu unterstützen.»
Aus der Ukraine kam am Donnerstag die Antwort: «Ausser atomarer Erpressung hat Russland nichts mehr, keine anderen Instrumente schüchtern die Welt ein», schrieb der Chef des Präsidentenbüros, Andri Jermak, auf Telegram. Die versuchte Angstmache werde aber nicht funktionieren.
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