USA und EuropaWo endet die Redefreiheit?
Die Zensurvorwürfe des US-Vizepräsidenten J. D. Vance haben die Europäer erzürnt. Viele Amerikaner hingegen finden, er habe recht – obwohl auch das Weisse Haus die Redefreiheit behindert.

- Der europäische Umgang mit Redefreiheit findet in den USA wenig Verständnis.
- Vizepräsident J. D. Vance hat seine Kritik an europäischen Ländern verschärft.
- Amerikanische Experten sehen Unterschiede in der Auslegung der Meinungsfreiheit.
- Aber die Trump-Regierung sei kein guter Anwalt für die freie Meinungsäusserung.
Europa gebe seine Grundwerte auf, sagte J. D. Vance bei seinem ersten Besuch als US-Vizepräsident auf dem alten Kontinent. «Man gewinnt kein demokratisches Mandat, indem man seine Gegner zensiert oder ins Gefängnis wirft», sagte Vance, bevor er demonstrativ Alice Weidel traf, Kanzlerkandidatin der AfD, einer in Teilen rechtsextremen Partei.
Der Vorwurf aus den USA erzürnte besonders die deutschen Gastgeber, die Donald Trumps Sidekick mitten im Wahlkampf zur Sicherheitskonferenz in München willkommen hiessen. Bundeskanzler Olaf Scholz wies die Kritik scharf zurück, sein Rivale Friedrich Merz ebenfalls.
Nun doppelt Vance nach. «Jemand zu beleidigen, ist kein Verbrechen, und freie Rede zu kriminalisieren, wird die europäisch-amerikanischen Beziehungen ernsthaft beeinträchtigen», schrieb der US-Vizepräsident auf der Plattform X.
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Damit kommentierte er einen Ausschnitt aus einer Reportage von CBS über die Onlinejustiz in Deutschland. «Ist es strafbar, jemanden in der Öffentlichkeit zu beleidigen?», fragte die Journalistin. «Ja», antworteten drei Staatsanwälte. Die Strafe falle sogar tendenziell höher aus, wenn das in sozialen Medien geschehe.
Viele Verstösse gegen Redefreiheit in Deutschland
Für viele amerikanische Ohren sind die Ausführungen der deutschen Juristen empörend. Besonders untermalt mit den Kamerabildern von CBS, die deutsche Polizisten bei Hausdurchsuchungen begleiteten, im Kampf gegen Hassbotschaften im Internet. Laptop und Mobiltelefon einer beschuldigten Person werden in Plastiksäcke gepackt und beschlagnahmt.
«Das ist Orwell, und jedermann in Europa und den USA muss diesen Wahnsinn ablehnen», schrieb Vance dazu, eine Anspielung auf die dystopische Erzählung «1984», in der George Orwell den perfekten Überwachungsstaat schilderte.
Die Kommunikationsabteilung von X unterstützte Vance mit einer Stellungnahme. Deutschland verlange unter allen EU-Ländern am häufigsten die Herausgabe von Nutzerdaten, 87 Prozent davon beträfen Verstösse gegen die Redefreiheit. X halte diese Begehren für illegal, schrieb die Firma von Elon Musk. Vergleichsdaten veröffentlichte sie nicht, der letzte Transparenzbericht ist veraltet, darin ist noch von Twitter die Rede.
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In der amerikanischen Rechtsprechung wird das Recht auf freie Meinungsäusserung breiter ausgelegt als in Europa. Der erste Zusatz zur US-Verfassung garantiere den Schutz der freien Rede vor staatlichen Eingriffen, sagt Eugene Volokh, Professor für Verfassungsrecht an der University of California Los Angeles und spezialisiert auf das «First Amendment». «Alle Meinungsäusserungen sind geschützt. Proamerikanische, antiamerikanische, nationalsozialistische, kommunistische, jihadistische», sagt Volokh.
Anders als in europäischen Ländern sind damit auch rassistische Schimpfwörter in der Öffentlichkeit nicht strafbar. Die Redefreiheit gilt gleichwohl nicht absolut, ausgenommen sind wie in Europa Drohungen und Verleumdungen, also die Verbreitung falscher Behauptungen über eine Person. «Aber Lügen über die Regierung sind geschützt», sagt Volokh.
Mit Covid kochte die Angst vor Zensur hoch
Allerdings muss in den USA nur der Staat das «First Amendment» garantieren. Private, zum Beispiel die Betreiber sozialer Netzwerke, können die freie Rede einschränken, wie Volokh soeben selbst erfahren hat. «Einer meiner Blogeinträge konnte nicht über Facebook geteilt werden, weil er eine Karikatur zitierte, die illustrierte, wie Hitler sich als Opfer von Zensur darstellte», sagt Volokh. Der Titel: «Hätte Zensur den Aufstieg der Nazis gestoppt?»
Illegal wäre es in den USA, wenn die Regierung von Betreibern sozialer Medien verlangen würde, unliebsame Inhalte zu sperren. Hart an diese Grenze gingen die Beamten unter Präsident Joe Biden. Die Mehrheit der Richter am Supreme Court sah im vergangenen Jahr in einem Modellfall keine Hinweise auf illegales Verhalten. Doch Facebook-Chef Mark Zuckerberg beklagte sich mehrfach über den Druck der Regierung, umstrittene Covid-Inhalte zu entfernen.
«Plötzlich wurde es denkbar, dass die sozialen Medien zusammen mit den Behörden ganz normale Amerikaner zensieren», sagte Volokh. «Das hat viele Leute beunruhigt.» Der Verfassungsrechtler findet es wichtig, dass die sozialen Medien nicht eingeschränkt werden. «Das First Amendment verleiht den Leuten ein Recht, polarisierende Inhalte zu verbreiten und Aufregung, Ärger und Angst zu schüren. Es gehört ja auch zu den meisten absolut legitimen politischen Debatten, dass man die Menschen aufrüttelt», sagt Volokh. «Nur wenn wir wütend werden, ändert sich auch etwas.»
Trump schränkt die Medienfreiheit ein
Mehr Redefreiheit täte Europa gut, sagt auch Jacob Mchangama. «Europa betrachtet die freie Meinungsäusserung zu sehr als Bedrohung der Demokratie statt als ihr wichtigstes Freiheitsrecht», sagt der dänische Jurist, der an der Vanderbilt University in Nashville den unabhängigen Thinktank «The Future of Free Speech» leitet. «Leider ist die Trump-Regierung ein ziemlich schlechter Anwalt für die Redefreiheit, weil sie selbst einen Krieg gegen die Medien begonnen hat», sagt Mchangama.
Trump verklagt Medienhäuser, der neue Chef der Regulierungsbehörde FCC hat Aufsichtsverfahren gegen TV- und Radiosender eröffnet, das Weisse Haus schliesst die Nachrichtenagentur Associated Press von der Berichterstattung aus dem Büro des Präsidenten aus. Die US-Regierung werde damit vor Gericht auflaufen, ist Mchangama überzeugt.
In Europa hingegen hetze der französische Präsident seine Juristen auf Leute, die ihn als Hitler porträtieren. Emmanuel Macron habe auch mehr Organisationen verboten als jeder andere Präsident der Fünften Republik. Und in Deutschland seien jedes Jahr Tausende Internetnutzer mit Ermittlungen konfrontiert.
Die Theorie des Dampfkochtopfs
Die europäischen Länder schränken die Redefreiheit wegen ihrer Geschichte stärker ein als die USA – Deutschland und Frankreich etwa wegen des Nationalsozialismus und des Holocaust, die Schweiz vor dem Hintergrund ihrer Religionskriege im 19. Jahrhundert. Derzeit macht ihnen unter anderem die Radikalisierung von Islamisten in den sozialen Medien zu schaffen.
Nur, wendet Mchangama ein, eigneten sich Zensurmassnahmen nicht dazu, die Demokratie zu verteidigen. In den Niederlanden stand Geert Wilders zweimal vor Gericht, inzwischen ist seine Partei die wählerstärkste im Land. In Deutschland schneidet die AfD in Umfragen besser ab als je zuvor. Die Forschung deute darauf hin, dass Repression den Rechtsextremismus fördere, sagt Mchangama. «Wir nennen es die Theorie des Dampfkochtopfs: Wenn der Staat zu mehr Repression greift, wird es für die Extremisten einfacher, Gewalt zu rechtfertigen.»
Während des Kalten Kriegs waren die Unterschiede zwischen den USA und Europa nicht gross genug, um von der gemeinsamen Mission abzulenken, die Meinungsfreiheit auf die Staaten hinter dem Eisernen Vorhang auszudehnen. Mit dem Aufstieg der sozialen Medien und Trumps erstem Wahlsieg 2016 kamen aber zunehmend Befürchtungen auf, dass Geld und vor allem fremde Mächte Wahlkämpfe beeinflussen könnten. «Da brach die Elitenpanik aus, und führende Politiker in Demokratien begannen, die Gefahr der Onlinedesinformation stark zu überzeichnen», sagt Mchangama. Das habe Trump verärgert. Leider reagiere er falsch darauf.
Zensur stoppte die Nationalsozialisten nicht
Eben erst strich der US-Präsident Milliarden an Hilfsgeldern, worunter Organisationen leiden, die sich für das Recht auf freie Rede einsetzen. Auch vermischt die US-Regierung Geschäftsinteressen amerikanischer Firmen mit der freien Meinungsäusserung: Vance kritisierte die Europäer ausgerechnet jetzt, weil die EU und ihre Mitgliedsländer den digitalen Raum regulieren und den amerikanischen Onlinegiganten empfindliche Bussen androhen. Und in einem Moment, in dem die USA den Rivalen China zwingen wollen, den Tiktok-Konzern herauszurücken, ohne Bedenken für die Redefreiheit, mit dem Ausweg über die Begründung, die Daten amerikanischer Nutzer schützen zu wollen.
Die Europäer sollten sich nun darauf konzentrieren, die positiven Teile des Digital Services Act umzusetzen, empfiehlt Jacob Mchangama. Etwa, dass soziale Medien begründen und transparent machen müssen, welche Inhalte sie entfernen.
Überdies sollten die Länder das Vertrauen in die Politik, in Institutionen und in traditionelle Medien zu stärken versuchen. Unter anderem mit besserer Bildung, aber bestimmt nicht mit mehr Zensur, findet der Jurist. Zensur sei in der Weimarer Republik breit angewendet worden. Den Aufstieg der Nationalsozialisten habe sie nicht verhindern können.
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