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Schweizer Gesundheitswesen
Unzähmbares Monster oder Weltklasse zu einem fairen Preis?

Jose Alejandro Aguirre, Leitender Arzt Insitut fuer Anesthesie, demonstriert fuer die Medien eine gestellte Behandlung im neuen ambulanten Zentrum des Stadtspital Zuerich an der Europaalle anlaesslich einer Medienbesichtigung am Donnerstag, 19. Januar 2023 in Zuerich. Der auf ambulante Medizin ausgerichtete Standort des Stadtspitals Zuerich wird im Februar 2023 in Betrieb genommen werden.(KEYSTONE/Michael Buholzer)
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Wenn sich ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen in der Kaffeepause manchmal über die hohe Belastung durch die Krankenkassenprämien beschweren, lässt das Anja Weber jeweils ratlos zurück. Sie ist vor 15 Jahren aus Deutschland in die Schweiz gezogen, heute arbeitet sie bei der Bundesverwaltung.

«Weil ich damals leider oft mit meinem Sohn zum Kinderarzt musste, habe ich sofort gemerkt, wie viel besser die Gesundheitsversorgung hier ist», sagt sie heute. «Im Gegensatz zu meinen Erfahrungen in Deutschland habe ich hier mit der ganz normalen obligatorischen Versicherung nie ein Problem gehabt, einen Termin zu bekommen, wenn es wichtig war.»

Weber hat selbst erlebt, was Fachpersonen in der verworrenen Diskussion über das Gesundheitswesen stets betonen: Das Schweizer System ist im Vergleich mit anderen Ländern qualitativ sehr hochstehend. Wird die Bevölkerung in Studien zu ihrem Eindruck befragt, bestätigt sie das jeweils deutlich.

Dass Anja Weber vor allem die Vorzüge des Systems sieht, hat allerdings auch damit zu tun, dass sie finanziell privilegiert lebt: Sie verdient mehr als 10’000 Franken im Monat; ihr Mann ebenso.

Ein grosser Teil der Bevölkerung bewertet die Kostenfolgen des Schweizer Gesundheitssystems dagegen als problematisch. Insbesondere für den unteren Mittelstand sind die Prämien belastend (Personen mit sehr tiefem oder gar keinem Einkommen werden durch Prämienverbilligungen und die Sozialhilfe entlastet).

Anja Weber dagegen sagt: «Ich glaube, dass viele in der Schweiz nicht sehen, was sie Gutes haben, und nicht wissen, dass man anderswo mindestens genauso viel dafür bezahlt.» Heute gibt die Schweiz 12 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts, also ihrer gesamten Wirtschaftsleistung, für Gesundheitsleistungen aus. Im internationalen Vergleich ist dieser Wert eher hoch.

Ein durchschnittlicher Haushalt hat 2023 gut 7 Prozent seines Bruttoeinkommens für Prämien für die obligatorische Krankenversicherung ausgegeben. Über diesen Anteil hinaus fallen die Kostenbeteiligung der Versicherten und Steuern an, die ebenfalls einen Teil der Gesundheitsleistungen finanzieren.

Die Prämien steigen weiter – und damit wohl auch der Frust

Es gibt eine Reihe Indikatoren, um den Frust der Bevölkerung über diesen Kostenblock darzustellen: Verschiedene Umfragen zeigen zum Beispiel, dass die steigenden Prämien die Bevölkerung so stark belasten wie kein anderes Thema.

Ebenfalls ein deutlicher Hinweis für die Unzufriedenheit ist, dass die beiden anstehenden Krankenkassen-Initiativen bei den letzten Umfragen beide Mehrheiten erreicht haben: Die Prämieninitiative der SP, die die Prämien bei 10 Prozent des verfügbaren Einkommens deckeln will, stand bei einem Ja-Anteil von 60 Prozent.

Die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei, die die Entwicklung der Gesundheitskosten an jene der Löhne koppeln will, erreichte 54 Prozent. Allerdings verlieren Initiativen in den Wochen vor dem Abstimmungstermin jeweils noch an Zustimmung. Dieser ist der 9. Juni.

Ohne weitreichende Eingriffe ins System scheint klar, dass die finanzielle Belastung in Zukunft zudem weiterhin stark zunehmen wird. Verantwortlich sind dafür die Faktoren Demografie und medizinischer Fortschritt: Gegen den einen kann die Politik nichts unternehmen; gegen den anderen will sich kaum jemand wehren, da das auf Kosten der Qualität geschehen würde.

Hinzu kommt aber auch, dass sich das Parlament in den vergangenen Jahren bereits an einer Reihe von Sparpaketen versucht hat. Grossen Erfolg hat keines davon gezeitigt.

Nur noch Fachpersonen haben den Durchblick

«Viele Menschen fühlen sich ob all dieser erfolglosen Bemühungen an Sisyphos erinnert», sagt Michael Hermann dazu. Der Politologe befragt regelmässig die Bevölkerung nach ihren Einstellungen zu Gesundheitsthemen.

Hermann sieht im Gesundheitswesen ein Demokratiedefizit. «Seit die Krankenversicherung vor bald 30 Jahren für obligatorisch erklärt wurde, schraubt die Politik am System und verkompliziert es», sagt er. «Mittlerweile bestehen so viele Ausgleichsmassnahmen und Übergangsbestimmungen für alles Mögliche, dass die politische Steuerung und damit eine demokratische Steuerung vielen unmöglich erscheint.»

Die Komplexität bewirke zudem, dass nur noch Fachpersonen den Durchblick hätten. Das stärke die Macht der Lobbyisten, sagt Hermann. Höchstens mit der Landwirtschaft sind die nationalen Parlamentarierinnen und Parlamentarier noch stärker verbandelt als mit der Gesundheitsbranche.

All das führe zu einem Gefühl der Ohnmacht, sagt Hermann und zitiert eine repräsentative Studie, die sein Institut im Auftrag des «Vereins Gesundheitswesen mit Zukunft» erstellt hat. Bei diesem handelt es sich um eine Koalition von Leistungserbringern im Gesundheitswesen wie Ärzten oder Apothekern, die gegen die Kostenbremse-Initiative kämpfen.

Für den Fall, dass die Kostenbremse-Initiative angenommen würde, erwartet nur ein Drittel der Befragten einen dämpfenden Effekt auf die Prämien. Stattdessen befürchten jeweils rund 50 Prozent der Befragten, dass eine Annahme der Initiative längere Wartezeiten, eine Rationierung von Leistungen und eine Zweiklassenmedizin zur Folge hätte.

Viele Beobachter gehen deswegen davon aus, dass die Initiative am 9. Juni scheitern wird. Ihr droht damit das gleiche Schicksal wie vielen radikalen Ideen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen: Sobald die Bevölkerung befürchtet, dass die Qualität leiden könnte, wird sie skeptisch.

In der Vergangenheit zeigte sich das unter anderem bei der Abstimmung über die sogenannte Managed-Care-Vorlage, die die Bevölkerung 2012 mit drei Vierteln ablehnte. Sie hätte den Krankenkassen mehr Steuerungsmöglichkeiten gegeben und die Wahlfreiheit der Patienten eingeschränkt. Bei der letzten von bisher insgesamt vier Abstimmungen über die Einheitskasse stimmten vor zehn Jahren zwar über 60 Prozent mit Nein; das waren jedoch deutlich weniger als bei den Anläufen davor.

Auch zeigen jährliche Befragungen der Bevölkerung im Auftrag des Branchenverbands Interpharma: Die meisten Personen sind nicht zu einem Systemwechsel bereit, bei dem zugunsten tieferer Kosten im System die Wahlfreiheit eingeschränkt würde.

In der Realität nehmen die meisten Personen einen solchen Wechsel jedoch bereits selbst vor: Nur noch ein Drittel aller Personen wählt die teuerste Prämie mit der vollen Wahlfreiheit.

Neuere Befragungen lassen jedoch vermuten, dass zumindest eine Einheitskasse in Zukunft gewisse Chancen haben könnte: Gemäss einer Studie des Basel Center for Health Economics vom Januar würden 68 Prozent der Befragten eine Einführung befürworten. In einer Umfrage des Online-Vergleichsdienstes Comparis vom April sprach sich gar ein leicht höherer Anteil für die Einheitskasse aus – allerdings nur unter der Bedingung, dass die Prämien um mindestens zehn Prozent sinken würden.

Es ist aber umstritten, ob eine Einheitskasse zu tieferen Prämien führen würde. Zwar könnten sogenannte Skaleneffekte zur Folge haben, dass die Kosten pro Versicherten sinken; zudem würden Marketingkosten wegfallen. Doch setzt der heutige Wettbewerb zwischen den Kassen Anreize zum effizienten Wirtschaften. Diese würden bei einer Einheitskasse fehlen.

Immerhin einer Logik folgt die neue Popularität der Einheitskasse hingegen: Ihr Wesen besteht nicht aus einem Abbau von medizinischen Leistungen oder Wahlmöglichkeiten. Das scheint der Schlüssel zur Mehrheitsfähigkeit zu sein.

Mitarbeit: Svenson Cornehls