Polio-Nachweise in EuropaWie gross ist die Gefahr eines Kinderlähmung-Ausbruchs in der Schweiz?
Die gefürchtete Infektionskrankheit gilt hierzulande als längst ausgerottet. Nun könnten die Polioviren wieder auftauchen. Der Bund hat erstmals einen Aktionsplan veröffentlicht.
- Schluckimpfungen haben Polio weltweit eingedämmt, bergen jedoch seltene Ausbruchsrisiken.
- In Europa sind Polioviren im Abwasser mehrerer Länder aufgetaucht, auch die Schweiz könnte betroffen sein.
- Bis anhin überwacht die Schweiz Polioviren im Abwasser nicht systematisch.
Die Kinderlähmung war bei uns einst eine gefürchtete Infektionskrankheit, die heute dank Impfungen weltweit fast ausgerottet ist. Gegen Ende des vergangenen Jahres ist nun aber der Poliomyelitis-Erreger in verschiedenen europäischen Ländern wieder aufgetaucht.
In Deutschland wurde das Poliovirus im Abwasser aller sieben Städte nachgewiesen, die ein entsprechendes Monitoring durchführen. Die deutsche Impfkommission rief Anfang Dezember deswegen dazu auf, «den Impfstatus zu überprüfen» und «versäumte Impfungen schnellstmöglich nachzuholen». Auch in Spanien, Polen, Finnland und Grossbritannien wurden Polioviren im Abwasser nachgewiesen.
Wie besorgniserregend ist die Situation?
Ausbruchsrisiko bei nicht ausreichend Geimpften
In der Schweiz sei «eine Überwachung auf Polioviren im Abwasser nicht vorgesehen», schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG). Angesichts der Funde überall in Europa wäre es jedoch keine Überraschung, wenn auch hierzulande Polioviren auftauchen würden. Diese Möglichkeit bestehe momentan, bestätigt Rainer Gosert vom Nationalen Referenzlabor für Poliomyelitis an der Universität Basel. Im vergangenen Dezember wurde erstmals ein nationaler Aktionsplan zur Kinderlähmung mit Empfehlungen für die kantonalen Behörden veröffentlicht.
Darin wird sogar davon ausgegangen, «dass ein nicht unerhebliches Ausbruchsrisiko in Bevölkerungsgruppen besteht, die nicht ausreichend geimpft sind».
Bei den nun gefundenen Erregern handelt es sich nicht um einen ursprünglichen Wildtyp, sondern um eine Variante, die sich aus Schluckimpfungen entwickelt hat.
Die abgeschwächten Polioviren in diesen Lebendimpfstoffen können in seltenen Fällen wieder zu einem ansteckenden Typ mutieren und Erkrankungen auslösen. Insbesondere in einigen afrikanischen Ländern kommt es noch regelmässig zu Ausbrüchen durch solche Impfstoff-abgeleiteten Polioviren. In der Schweiz wird die Schluckimpfung seit 2001 nicht mehr empfohlen. Wie in den anderen westlichen Ländern wird hierzulande ausschliesslich inaktivierter Polio-Impfstoff verwendet, bei dem solche Erkrankungen nicht möglich sind.
Katastrophennotstand in New York
Tatsächlich sind laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Sequenzen der Abwasserproben aus Europa mit Proben aus Nigeria verwandt, wo die Viren seit etwa 2020 kursieren. Seither haben sie sich auf andere Regionen ausgebreitet. «Dies lässt vermuten, dass die Viren eingeschleppt wurden», so Gosert. «Da es momentan grosse Bewegungen von Flüchtlingen aus mehreren Ländern der Welt gibt, besteht die Möglichkeit, dass auch Polioviren in die Schweiz gelangen.»
Eigentlich gilt die Schweiz seit Anfang der 1990er-Jahre als frei von Kinderlähmung. Für die Allgemeinbevölkerung ist laut BAG das Risiko einer Erkrankung «sehr gering». Die Impfung biete einen ausgezeichneten Schutz, und die Durchimpfungsrate sei mit rund 95 Prozent vergleichsweise hoch. In ungenügend geimpften Bevölkerungsgruppen kann es dennoch zu Erkrankungen kommen. In den USA, die seit 1979 als poliofrei gelten, erkrankte 2022 im Bundesstaat New York ein ungeimpfter Mann, der vorher nicht im Ausland war, an typischen Lähmungserscheinungen. Nach Polio-Nachweisen in Abwasserproben rief die Gouverneurin von New York vorübergehend den Katastrophennotstand aus.
Nur Impfung schützt vor Polio
«Das Poliovirus führt bei weniger als einem Prozent der ungeimpften Infizierten zu einer Lähmung», erklärt Rainer Gosert vom Nationalen Referenzlabor. «Das heisst, wenn ein Polio-Fall auftritt, sehen wir nur die Spitze des Eisbergs und können davon ausgehen, dass viele weitere Personen infiziert wurden.» Die Lähmungen sind meist einseitig und betreffen mehrheitlich die Beine. Seltener kommt es zu einer lebensbedrohlichen Atemlähmung. Die Erkrankung kann sich vollständig zurückbilden oder lebenslang weiter bestehen. Bei 90 Prozent der infizierten Personen verläuft eine Poliovirus-Infektion ohne Symptome.
Grundsätzlich ist Polio hochansteckend. Nach einer Infektion wird das Virus in der ersten Woche im Speichel, danach, während drei bis sechs Wochen, im Stuhl ausgeschieden. Ansteckungen erfolgen meist über Schmierinfektionen durch schmutzige Hände sowie kontaminiertes Wasser oder Essen.
Eine Impfung ist der einzige Schutz vor Polio. Die Eidgenössische Impfkommission empfiehlt, Säuglinge mit drei Dosen im Alter von 2, 4 und 12 Monaten zu impfen, gefolgt von einer vierten Dosis zwischen 4 und 7 Jahren. Zehn Jahre nach der letzten Impfung kann eine Auffrischung angezeigt sein, zum Beispiel bei einem Aufenthalt in Regionen, in denen das Virus zirkuliert. Ungeimpfte Erwachsene können den Schutz mit drei Dosen nachholen.
Inaktivierte Impfstoffe schützen nicht vor Ansteckung
Die in Industrieländern verwendeten inaktivierten Polio-Impfstoffe schützen sehr gut vor Erkrankung, jedoch nicht vor Infektion und Weitergabe des Erregers. Eingeschleppte Viren können dadurch unbemerkt ihre Kreise ziehen, bis ein Krankheitsfall bei einer ungeimpften Person auftritt.
Das ist einer der Gründe, weshalb man vor allem in Afrika und Asien weiterhin auf Schluckimpfungen setzt. Diese schützen auch vor Ansteckung und Weiterverbreitung. Sie sind zudem günstiger als inaktivierte Impfstoffe und schützen nicht nur die geimpfte Person, sondern können auch auf weitere Personen im Umfeld übertragen werden. Diese werden dadurch indirekt mitgeimpft. Diese Vorteile wiegen in den betroffenen Ländern das geringe Risiko von Polio-Fällen aufgrund der Schluckimpfung auf.
Eigentlich versucht die WHO die Kinderlähmung bereits seit 1988 weltweit auszurotten. Dies ist noch nicht gelungen, aber es wurde viel erreicht: Die Krankheitsfälle durch Wildtyp-Polioviren sanken gemäss WHO-Daten um 99 Prozent – von 350’000 im Jahr 1988 auf etwa 400 im Jahr 2013. Heute gelten die WHO-Regionen Amerika, Westpazifik, Afrika und Europa als frei von Wildtyp-Polioviren.
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