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Meinung

Petras Buchzeichen
«Echt fett», dass ich Hip-Hop höre

ONLINE TEASER
Portrait von Petra Ivanov, Autorenbild der neuen Kolumnistinnen.
02.02.2023
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)
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BotTalk

Ich hatte noch nie von The Pharcyde gehört, als ich mich in die Warteschlange vor der Alten Kaserne in Zürich einreihte. Am Eingang flackerte bläuliches Licht, aus dem Lokal drangen gleichmässige Beats. Ich war zum ersten Mal an einem Hip-Hop-Konzert. Verstohlen blickte ich mich um. Zwar trug niemand eine Panzerkette oder einen Grill, dennoch fiel ich auf. Das Publikum war grösstenteils jung und fast ausschliesslich männlich. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz. Kurz überlegte ich, umzukehren. Normalerweise lag ich um diese Zeit mit einem Roman und einer Tasse Tee auf dem Sofa und genoss die Stille. Da sagte ein Mittzwanziger mit Basecap hinter mir: «Echt fett, dass du in deinem Alter Hip-Hop hörst!» Ich wusste nicht, ob ich mich geschmeichelt fühlen oder beleidigt sein sollte, doch die Anspannung fiel von mir ab. Ich verschwieg, dass ich nur gekommen war, um für ein Jugendbuch zu recherchieren.

An der Bar holte ich mir eine Flasche Mineralwasser und – als Einzige – ein Paar Ohrstöpsel. Ich stellte mich ganz hinten an die Wand, von wo aus ich den Raum im Blick hatte. Eine Stunde lang nippte ich an meinem Wasser und versuchte zu begreifen, was dem Publikum an dem monoton vorgetragenen Sprechgesang gefiel.

Dann betrat The Pharcyde die Bühne. Die Raps der Underground-Hip-Hop-Gruppe aus Los Angeles waren intelligent, die Beats relaxt. Schon bald wippte ich mit dem Fuss, irgendwann stand ich nicht mehr an der Wand. Die Musik riss mich mit und katapultierte mich in eine andere Welt. In diesem Moment wurde mir mit aller Deutlichkeit klar, warum ich meinen Beruf so liebe: Er zwingt mich, meine Komfortzone zu verlassen.

Menschen, denen ich im Alltag nie begegne

Ich dachte daran zurück, was ich dank meiner Recherchen alles erleben durfte. Für meinen Kriminalroman «Tatverdacht» bin ich mit der Swisscoy in Kosovo auf Patrouille gegangen. Für «Täuschung» habe ich ausgewanderte Schweizerinnen und Schweizer in Thailand interviewt. Ich habe Gefängnisse, Gerichtssäle und Krematorien von innen gesehen. Immer wieder traf ich dabei Menschen, denen ich in meinem Alltag nie begegnet wäre.

Aber warum brauche ich diesen Zwang? Warum besuche ich nicht freiwillig Konzerte von Bands, die ich nicht kenne? Oder Orte, zu denen ich bisher keinen Bezug hatte? Warum komme ich nicht häufiger mit Fremden ins Gespräch? An mangelnder Neugier fehlt es mir nicht. Woran dann? An Mut? Oder bin ich einfach zu bequem?

Sicher, die eigene Komfortzone zu verlassen, ist unangenehm. Die Interviews, die ich in Thailand durchgeführt habe, waren anstrengend. Ich drang in Leben ein, die mich nichts angingen. Stellte Fragen, die mehr Vertrautheit voraussetzten. Es kam vor, dass mein Gegenüber mit Ablehnung oder Unverständnis reagierte. Ich hatte das Gefühl, taktlos zu sein. Das ging nicht spurlos an mir vorbei. Auch bei der Swisscoy war mir häufig unwohl. Ich konnte mir die militärischen Grade nicht merken, verstand die Fachbegriffe nicht. Mein Unwissen war mir peinlich und führte mir meine Unzulänglichkeit vor Augen.

Doch wenn ich an die eindrücklichsten Erlebnisse meines Lebens zurückdenke, kommen mir nicht die Abende auf dem Sofa in den Sinn. Sondern Erfahrungen, die ich im Moment als unangenehm und erst im Nachhinein als Bereicherung empfand. Berichte ich an Lesungen von meinen Recherchen, so schildere ich, wie ich am liebsten im Boden versunken wäre, als ich in Georgien einem finster dreinblickenden Polizeichef gegenübersass und nicht mehr wusste, was ich ihn hatte fragen wollen. Oder wie mir ein Pferd auf den Fuss trat und mir die Zehe brach, nur weil ich mich in einen passionierten Reiter hineinversetzen wollte. Nie erzähle ich, wie ich einen Begriff in eine Internet-Suchmaschine eingab oder einen Ort auf Google Maps suchte.

Ich habe mir vorgenommen, mein Leben so zu leben, als würde ich jeden Tag für einen Roman recherchieren. Immer wieder aus meiner Komfortzone auszubrechen und Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Vielleicht werde ich dadurch nicht glücklicher. Ganz sicher werde ich mich ab und zu verfluchen. Aber an Geschichten und Anekdoten wird es mir nie fehlen.