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Meinung

Kims Hexenapotheke
Ich will nicht von einem Heilsbringer abhängig sein

Portrait von Kim de l’Horizon, Autorenbild der neuen Kolumnistinnen.
02.02.2023
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)
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Ich sitze im Zug, ich sitze im Winter, der Winter ist gross, grösser als ich und grösser als der Zug. Ich glaube gerade nicht an sein Ende, obwohl ich es besser weiss. Ich versuche, mich mit einem Video abzulenken, in dem opernmässig gesungen und ballettös getanzt wird (um mir mal was «Anderes» reinzuziehen), als mich ein Gespräch am Nebentisch ablenkt. Ob es naiv sei, an das Ende von Krieg und Klimawandel zu glauben. Als es etwas hitzig zu werden droht, stehe ich auf und möchte mich ins Bordrestaurant schleichen, da hält mich die eine Person an und sagt: «Sie haben aber ein geiles Outfit!». Ich trage einen cremefarbenen Rock, ein goldenes Top, goldenen Schmuck im Ausmasse einer Weihnachtstanne und ebensolches Make-up. Irgendwas muss ja gegen diese Grauheit getan werden.

Die Nebenperson findet, ich könnte der kleine BRUDER von diesEM Kim de l’Horizon sein, wobei die andere Person leidenschaftlich widerspricht, sie habe ja diesEN Kim de l’Horizon zweimal gesehen, und beide Male habe diesER in total biederen Omakleidchen gesteckt, IHM mangele es also total an meinem Geschmack, ER würde seine – Zitat (I swear) – «Fummel bestimmt in einem Brocki am Rande der Agglo kaufen» – Zitatende. Na ja, lustig, das sei nicht das erste Mal, erwidere ich, dass ich mit Kim verwechselt würde. Wo die Person Kim denn in den geschmacklosen Grosstantenfetzen gesehen habe? An einer Lesung und mal auf der Strasse, an dem Tag, als sie auch diese Weihnachtskolumne von Kim gelesen habe, die sie so provoziert habe. Wieso provoziert? Jesus sei darin als «Retterbaby» diffamiert worden. Den blutigen Analsex im «Blutbuch» habe sie ja gelesen und gemocht, aber diese unkommentierte Jesusdiffamierung, das sei also zu weit gegangen.

Liebe Person, die meine Outfits manchmal geil, manchmal scheisse findet, die mein Buch gelesen und die ich mit dem «Retterbaby» provoziert habe. Einige Zeilen an Sie, um zu erklären, woran ich glaube.

Die weit entfernten Männergötter

In vorpatriarchalen Kulturen gab es keine einzelnen, machtzentrierenden Gottheiten. Nomadische Gruppen haben vermutlich zu Geistern und Nymphen gebetet, dem Wetter und der Natur: den Wäldern, den Tieren, den Flüssen. Den Dingen, von denen ihr Leben ganz konkret abhing. Erst mit der Sesshaftigkeit gab es Besitz und dessen Anhäufung, was zu immer grösseren Ungleichheiten und steilen Hierarchien führte. Vermutlich sind solche sozialen Machtpositionen die Voraussetzung für Götter im heutigen Sinn. Einzelne Männergötter, die weit weg vom Irdischen und Körperlichen über all dies herrschen. So weit weg, dass sie Söhne hinuntersenden müssen.

Jesus wurde ohne Sex und Sperma gezeugt und hinterliess keinen Leichnam, der wieder zu Erde wurde. Die Figur, zu der er gemacht wurde, steht für mich für ein kreuzfalsches Versprechen: Dass es ein Heil jenseits von Körper und Leben gibt. Kann ja sein, dass dem so ist – nur wissen wir es nicht. Was wir wissen: Es gibt eine Lebendigkeit hier und jetzt, die besser sein könnte für viele. Erzählt zu bekommen, dass wir ein Heil erfahren, wenn wir den Ist-Zustand akzeptieren, ist hochpolitisch für mich. Denn wem dient das?

Wenn Elon Musk andere Planeten bevölkern will, wenn es die Vision gibt, unser Hirn auf eine Cloud zu laden, das dann einen neuen Körper bekommt, wenn die Welt besser ist oder alle Krankheiten geheilt werden können – dann sind das leere Heilsversprechen. Christliche Fantasien eines paradiesischen Jenseits, sei das örtlich oder zeitlich.

Ab dem 17. und 18. Jahrhundert löste der Glaube an die Wissenschaft die Religion ab. Der Glaube an das Grössere, das wir nicht sehen (Gott), wurde abgelöst durch den Glauben an das Kleinere, das wir nicht sehen (Säfte und Teilchen). Was blieb, war die Notwendigkeit eines Retters. Was früher Jesus und Könige waren, wurden Ärzte, Diktatoren und Start-up-Genies. Ich aber glaube an und suche nach Praktiken und Künsten, die keine luziden Höhen anstreben, sondern schlammige Plattheiten. Nicht die Meisterung eines Handwerks, von vorgegebenen Schritten und Tonleitern, sondern das wackelige Ausprobieren.

Ich wünsche mir Glaubenssysteme, die keine Abhängigkeiten erzählen von Rettung bringenden Babys, sondern die Anleitungen zu Verbindungen bieten. Wir lösen die Probleme dieses Planeten nicht, wenn wir an einen Heilsbringer glauben, sondern wenn wir die Netzwerke des Lebens stärken: diejenigen zwischen Menschen und diejenigen zwischen Menschen und anderem Leben. Ich glaube an das Grössere im Kleinen; wir bestehen aus der Erde und ihren Materien. Kein Mann muss uns davon befreien. Meine Religion ist das Planetare und seine Politik der Allverbundenheit.