Petras BuchzeichenVom Segen der Vergesslichkeit
In Zukunft könnte es möglich werden, Erinnerungen digital zu konservieren. Die Vorstellung, die Auswahl einem Algorithmus zu überlassen, macht mir zu schaffen.
Mit dem Erscheinen eines neuen Buches verändert sich mein Alltag. Ich reise kreuz und quer durch die Schweiz, um den Roman vorzustellen. Lesungen bieten dem Publikum die Möglichkeit, mehr über die Entstehung eines Buches zu erfahren. Und mir Fragen zu stellen.
Schon beim Gedanken daran werde ich nervös. Nicht, weil ich Lampenfieber habe. Sondern, weil ich so vergesslich bin. Von der Recherche bis zum Erscheinen eines Buches können gut und gern zwei bis drei Jahre vergehen. Bei der «KRYO»-Trilogie, aus der ich zurzeit vorlese, waren es sogar fünf. Ich kann mich problemlos an die Fachliteratur erinnern, die mich angeregt hat. Besser gesagt, ich sehe den Stapel Bücher auf meinem Schreibtisch noch genau vor mir. Dazu Zeitungsartikel und ausgedruckte Onlinebeiträge. Über Unsterblichkeit und die Optimierung des Menschen. Das Hochladen des Bewusstseins auf einen digitalen Datenträger.
Ich erinnere mich auch an die Begeisterung, die ich beim Recherchieren empfand. Daran, wie ich immer tiefer in die Materie eintauchte. Wie mich die Vorstellung, ewig zu leben, zugleich faszinierte und erschaudern liess. Nur an die Fakten erinnere ich mich nicht mehr. Zwar weiss ich noch, was das Gelernte in mir auslöste und welche Schlüsse ich daraus zog. Fragt mich aber jemand an einer Lesung, wie man einen Menschen kryokonserviert oder was ein Rana sylvatica ist, kann ich nur ratlos mit den Schultern zucken.
Nur noch Fetzen sind übrig
Bei den Schauplätzen geht es mir nicht anders. Ich habe alle Orte besucht, über die ich geschrieben habe. Während der Entstehung der «KRYO»-Trilogie konnte ich das Bellen der Seehunde in Monterey hören. Die Kälte der Klostermauern auf Solowezki spüren. Die Obdachlosen in Seattle sehen und die Kneipe im Berliner Wedding riechen. Davon sind jetzt nur noch Erinnerungsfetzen übrig.
Auch von der Handlung fehlen manchmal Bruchstücke. Das liegt daran, dass nicht alles, was sich während des Schreibens in meinem Kopf abspielt, später auch im Buch steht. Umgekehrt gibt es Stellen, die ich so häufig überarbeitet habe, dass ich die endgültige Version vergesse.
Sogar Google hat mein Problem erkannt. In regelmässigen Abständen bekomme ich Meldungen, die meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen sollen. «Sieh dir an, was du heute vor vier Jahren gemacht hast» oder «Erinnerst du dich an diesen Tag?». Erst kürzlich zeigte mir die Foto-App die Aufnahme eines Wespenstichs und fragte, ob ich «den Moment noch einmal erleben» wolle. Nein, will ich nicht, danke.
Doch der Vorschlag stimmt mich nachdenklich. Ich muss an den Traum von der digitalen Wiederauferstehung denken. Vor einigen Jahren gelang es einem Start-up, Gehirne von Kaninchen und Schweinen so zu kryokonservieren, dass das Netz aus Synapsen erhalten blieb. Wenn man diese Gehirne auslesen könnte, wäre es möglich, das Bewusstsein, mitsamt allen Erinnerungen, neu zum Leben zu erwecken und auf einen Datenträger zu laden.
Science-Fiction? Im Moment, ja. Aber es gibt Forschende, die an diese Möglichkeit glauben. Eigentlich müsste mich das freuen. Meine Vergesslichkeit wäre kein Thema mehr. Doch der Gedanke macht mir zu schaffen. Was, wenn ich mich gar nicht an alles erinnern möchte? Wenn sich in meinem Gedächtnis lauter Wespenstiche ansammeln? Oder würde nur ein Teil gespeichert? Wer träfe die Auswahl? Ein Algorithmus? Darüber stand damals in den Unterlagen nichts. Glaube ich.
Vielleicht ist Vergessen doch nicht so schlecht. Wer will sich schon zweimal auf eine Wespe setzen? Kanadische Hirnforscher haben festgestellt, dass Menschen neuen Herausforderungen leichter entgegentreten und bessere Entscheidungen treffen, wenn sie sich nicht jedes Detail aus der Vergangenheit eingeprägt haben.
Ausserdem hat Vergessen den Vorteil, dass ich meine Lieblingsbücher immer und immer wieder lesen kann. Und mich jedes Mal von neuem über das unerwartete Ende freue.
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