Lesende fragen Peter SchneiderIst die Familie die Keimzelle der Gesellschaft?
Diese Frage stellt eine Leserin unserem Kolumnisten – und der hat dazu eine ganz klare Antwort.
Sie haben einmal in einer Kolumne geschrieben: «Sowenig die Familie die Keimzelle der Gesellschaft ist ...» Warum soll die Familie nicht Keimzelle der Gesellschaft sein? So beginnt es: Eine Frau und ein Mann erzeugen ein Kind. Dann sind sie zu dritt und müssen füreinander sorgen. Aus mehreren solcher kleinen Gemeinschaften/«Keimzellen» entsteht ein grösseres Gebilde, das zur Gesellschaft führt. Hier sorgen wir ja auch füreinander. A.H.
Liebe Frau H.
Wenn man von einer «Keimzelle» von irgendetwas spricht, unterstellt man eine bestimmte Art von Entwicklung: vom Kleinen zum Grossen, vom Elementaren zum Komplexen. Gesellschaft und Familie verhalten sich aber anders zueinander. Die Familie ist nicht eine Gesellschaft im Kleinformat und die Gesellschaft keine grosse Familie. Tatsächlich muss die Familie überwunden werden, damit Gesellschaft entstehen kann und nicht ein inzestuöser Grossclan.
Es «beginnt» eben nicht so, wie Sie schreiben. Nicht zuletzt deshalb nicht, weil es keinen Ausgangspunkt ausserhalb von Gesellschaften gibt. Familien streifen nicht durch die Wälder und Wiesen, bis sie irgendwann auf eine weitere Familie stossen und dann auf eine dritte, mit der sie schliesslich zusammen eine Gesellschaft bilden. Familien entstehen innerhalb von vorhandenen Gesellschaften. Mäuseeltern und Mäusejunge bilden keine Familienstruktur (und keine Gesellschaft, sondern höchstens ein Gewusel von vielen Mäusen); Primaten und Menschen leben sowohl in einer Familie als auch in einer «Gesellschaft».
Einfluss von Krippe und Kindergarten
Die soziale Regel der Exogamie sorgt dafür, dass aus der Gesellschaft nicht eine allumfassende Grossfamilie wird, sondern der Familiennachwuchs sich aus der Ursprungsfamilie wegorientiert. Freud hat die Exogamie mit dem vom Ödipuskomplex abgeleiteten Inzesttabu erklärt. Man muss freilich nicht den Ödipuskomplex bemühen, um die Exogamie mit ihren komplexen Heiratsregeln als ein weitgehend universelles Prinzip der Regulierung des Verhältnisses von Familie und Gesellschaft zu erkennen. Nicht erst in der Pubertät erfahren Kinder, dass es ein Ausserhalb der (eigenen) Familie gibt: in der Krippe, im Kindergarten, in der Schule, im Fernsehen, bei anderen Familien. Dort herrschen andere Sitten und Gebräuche als daheim. Diese Erfahrung ist eminent wichtig.
Nur sektenartige Familien-Gesellschaften versuchen, ihren Nachwuchs von dieser Erfahrung abzuschotten. Das bedeutet: Gesellschaft zu familiarisieren, sie zu einem horrifizierten Ausserhalb zu machen, zu einer Gefahr, weil dort Veränderungen stattfinden, vor denen die Familienmitglieder angeblich geschützt werden müssen. Solche Familien sind keine Keimzellen, sondern Brutstätten von Wahn und Brutalität.
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