Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen
Meinung

Lesende fragen Peter Schneider
Wieso verlieren wir den Blick der Kindheit?

Toddler ringing a colorful bell in music room of Daycare center, Pre-school or Kindergarten, Cologne, NRW, Germany
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Mich nimmt wunder, weshalb wir als Erwachsene die Welt meist nicht mehr so sehen wie Kinder, also verspielt, unvoreingenommen, spontan. Und, viel wichtiger, wie wir diesen Blick vielleicht wieder lernen oder mehr in unseren Alltag integrieren können beziehungsweise sogar sollten. F.C.

Lieber Herr C.

Ich habe vor längerer Zeit auf eine analoge Frage geantwortet, nämlich warum man sich auch in mittlerem Alter oftmals nicht «wirklich» erwachsen fühlt. Meine Antwort lautete: weil Erwachsensein ein Kinderkonzept ist, also voller kindlicher Fantasien, wie es wohl sein muss, wenn man dann endlich mal erwachsen ist: Man darf so lange aufbleiben, wie man will, kann sich Spielzeug kaufen, so viel die Kreditkarte hergibt, und so weiter.

Das Gegenstück zu dieser Fantasie ist die nostalgische Vorstellung, wie wunderbar es sein müsste, wenn wir alle wieder (wie die) Kinder wären. Diese Idee ist nur ein Beispiel für eine weitverbreitete Denkfigur, in der Geschichte als Geschichte eines Verfalls erscheint: Früher war alles besser, und in der Zukunft kann alles immer nur schlechter werden.

Das ist das Credo des Kulturpessimismus, der es mit Differenzierungen (wann genau war was besser?) nicht so genau nimmt. Wer reale Kinder kennt, wird selten Zustände von seliger Zufriedenheit beobachten, sondern häufiger eine manchmal mehr, manchmal weniger manifeste Unruhe feststellen.

Vom wohligen Nichtstun fühlen sich Kinder eher genervt.

Kinder sind unguided missiles ihrer Launen. Kontemplation, Gemütlichkeit, wohliges Nichtstun sind eher erwachsene Beschäftigungen, davon fühlen sich Kinder eher genervt. Umgekehrt nerven Kinder ihre Eltern dadurch, dass sie ständig etwas von ihnen wollen.

Das liegt aber nicht daran, dass sie ihre Eltern gerne plagen, sondern weil sie so abhängig sind von den Erwachsenen. Diese Abhängigkeit macht die Kleinen aber nicht glücklich, sondern der Tendenz nach hässig, denn eigentlich würden sie noch so gerne lieber alles allein können – eine explosive Mischung, auch bekannt unter dem Titel «Trotzalter».

Wenn sie dann endlich erwachsen sind, müssen sie enttäuscht feststellen, dass sie sich den Zustand des «Grossseins» allzu goldig vorgestellt haben.

Freud beschreibt in seiner Leonardo-Studie diese Situation so drastisch wie realistisch: «Es scheint, dass die Kindheit nicht jenes selige Idyll ist, zu dem wir es nachträglich entstellen, dass die Kinder vielmehr von einem Wunsch, gross zu werden, es den Erwachsenen gleich zu tun, durch die Jahre der Kindheit gepeitscht werden.»

Wenn sie dann endlich erwachsen sind, müssen sie enttäuscht feststellen, dass sie sich den Zustand des «Grossseins» allzu goldig vorgestellt haben. Und dass sie sich für all den Erwachsenenkram oftmals «noch viel zu klein» fühlen. Bis sie dann später das «Für den Scheiss bin ich zu alt»-Stadium erreichen. Ach!

Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.