Lesende fragen Peter SchneiderWie seriös ist der Begriff der passiven Aggressivität?
Unser Kolumnist macht sich Gedanken über die Forderung, alles in Ich-Botschaften zu verpacken – und worin das im Falle einer gröberen Unzufriedenheit gipfelt.
Seit einiger Zeit begegnet mir ständig der Begriff «passiv-aggressives Verhalten». Was ist das? Können Sie bitte einmal erklären, was damit gemeint ist, am liebsten mit ein, zwei Beispielen. B.L.
Liebe Frau L.
Darf ich es mit einem uralten Dad-Joke erklären? Was ist der Unterschied zwischen einer italienischen und einer jüdischen Mutter? Die italienische Mutter sagt: «Wenn du diese Frau heiratest, bring ich dich um.» Die jüdische: «Ich bring mich um, wenn du die Schickse heiratest.» Letzteres gilt als passiv-aggressiv. So weit, so mässig lustig.
Ernsthafter definiert es die Zeitschrift «Brigitte»: «Passiv-aggressive Menschen im Umfeld zu haben, kann sehr belastend sein …», denn sie geben «dir irgendwie ein schlechtes Gefühl … Sie senden oft widersprüchliche Signale und sind zum Teil schwer zu identifizieren.» Die sieben Sätze, anhand derer Sie diese Menschen «laut Mobbing-Expertin, Wutbewältigungs-Coach und Buchautorin Signe Whitson» dann doch erkennen, erspare ich Ihnen und verweise Sie stattdessen auf die einschlägige Fachliteratur, die Sie in jeder gut sortierten Buchhandlung leicht zwischen den Büchern über «Narzissmus» und «Toxische Beziehungen» finden können.
Sie merken an meinem süffisanten Tonfall, dass mir etwas an der Diagnose der «passiven Aggressivität» gründlich missfällt. Nicht, dass es dieses Phänomen nicht geben würde – man ahnt mindestens, was damit gemeint ist: eine Art von beleidigtem Trotz gepaart mit larmoyanter Kritikimmunisierung –, aber zugleich bringt eine gewisse Psychokultur genau das vor, was sie dann an den Passiv-Aggressiven bekämpft.
Dafür, dass einen etwas traurig macht, muss man nicht um Verzeihung bitten, denn dafür kann man schliesslich nichts.
Die Forderung, alles in Ich-Botschaften zu verpacken, was die Seele bewegt, generiert solche Sätze wie «Mich macht es jetzt sehr traurig, dass …» anstelle eines schlichten «Du Arschloch!», das wenigstens der Ausgangspunkt für eine spätere Entschuldigung und Versöhnung sein kann. Dafür, dass einen etwas traurig macht, muss man nicht um Verzeihung bitten, denn dafür kann man schliesslich nichts.
Was ausserdem nützt die (berechtigte) Forderung, psychiatrische Diagnosen zu enttabuisieren und zu entstigmatisieren, wenn das Stigma, das Tabu und die Verachtung über Alltagsdiagnosen wie «toxisch», «narzisstisch» oder «passiv-aggressiv» gerade wieder reimportiert werden? Vielleicht ist Ihr Partner ja gar nicht depressiv (was völlig okay wäre, weil das eine Erkrankung ist, für die man sich nicht schämen muss und die mit hoher Wahrscheinlichkeit jede*n von uns treffen kann), sondern auf toxische Weise PASSIV-AGGRESSIV, die feige Sau: unfähig, die eigenen Gefühle adäquat auszudrücken, und stattdessen Ihnen «irgendwie ein schlechtes Gefühl» vermittelnd.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.
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