Lesende fragen Peter SchneiderInwiefern gibts beim Antisemitismus kein Innen und Aussen?
Unser Kolumnist erläutert, warum es verkehrt ist, zu sehr auf die «Herkunft» des Antisemitismus zu fokussieren.
Sie haben kürzlich geschrieben «Beim Antisemitismus gibt es kein Innen und kein Aussen ...» – und dass es Antisemitismus auch ohne Antisemiten geben kann. Ich ahne, was Sie meinen könnten, wäre jedoch froh, wenn Sie das etwas gründlicher erläutern könnten. A.P.
Liebe Frau P.
Es ging um die Frage, ob und inwieweit wir Antisemitismus «importieren». Man verharmlost den in den letzten Wochen aufflammenden propalästinensisch inspirierten Antisemitismus nicht, warum man sich gegen die «Import»-Theorie wendet. Zum Import gehört ein Aussen – in dem z.B. der Kakao wächst bzw. der Antisemitismus blüht – und ein Innen, in dem weder Kakao noch Antisemitismus zu haben wären, würde man diese Dinge nicht importieren. Das ist nun offenkundig nicht der Fall.
Der christliche Antijudaismus hat eine lange Geschichte, der Schweizer Antisemitismus ebenso, der muslimische Antisemitismus dito, oder wie Hannah Arendt 1941 in einer Kolumne schrieb: «Vor Antisemitismus aber ist man nur noch auf dem Monde sicher.» Es gibt keine Verschwörungstheorie, die nicht auf irgendeine Weise mit der Behauptung eines jüdischen Komplotts verbunden ist. Auf unserer «Flacherde» jedenfalls ist man nicht auf der sicheren Scheibe: «Zionist Jews control the educational system and have created a false science that has removed God from the minds of men through so-called science that alleges that there is a universe without a creator.» Das Zitat stammt aus Edward Hendries Buch von 2016 «The Greatest Lie on Earth: Proof that Our World Is Not a Moving Globe» (2016).
Allein in der ersten Woche nach Musks Übernahme von Twitter 2022 tauchten fast viertausend neue Accounts auf, die antisemitische Inhalte verbreiteten.
Dabei würde man doch die Flatearthers für die harmlosesten Spinner unter allen Querdenkern gehalten haben. Die Vorstellung eines antisemitischen Draussen und eines eigentlich und ursprünglich antisemitismusfreien Drinnen ist nicht nur angesichts dieser nahezu allgegenwärtigen antijudaischen kulturellen Matrix nicht haltbar (eines bereitliegenden «strukturellen» Antisemitismus, der eine Form bildet, in die man fast jeden Inhalt giessen kann); sie ist auch «technisch» hoffnungslos veraltet. Wo sollte in einer durch das Internet irreversibel globalisierten Welt die Grenze zwischen Innen und Aussen verlaufen?
Fun Fact: Allein in der ersten Woche nach Musks Übernahme von Twitter im Oktober 2022, also ein Jahr vor dem Massaker der Hamas, tauchten fast viertausend neue Accounts auf, die antisemitische Inhalte verbreiteten. Zum Schluss aber auch noch dies: Es ist wichtig, auf die geschichtliche Kontinuität und auf die Anpassungsfähigkeit des Antisemitismus hinzuweisen. Man darf aber die Judenfeindschaft damit nicht «überhistorisieren». Man muss ihn dort und in jener Gestalt bekämpfen, wo und in der er aktuell auftritt.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.
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