Kämpfe in der OstukraineNew York ist schwer getroffen
Eine ukrainische Kleinstadt hat gerade ihren historischen Namen zurückbekommen, der auf die US-Weltmetropole zurückgeht. Jetzt steht sie mitten im Krieg.
New York ist unter Beschuss, auf New York fallen russische Raketen. Eine ist im Garten von Kristina Schewtschenko gelandet. Sie hat einen Krater hinterlassen und den Torso eines Baums. Das Haus steht noch, es hätte schlimmer kommen können, aber ihr Traum ist nun in Gefahr. Ihr Traum von einem erblühenden New York, das ihre ostukrainische Heimatstadt ist.
Kristina Schewtschenko sagt am Telefon: «Seit einem Monat ist es schwer. Russische Panzer, Artillerie, Luftangriffe, es gab Tote. Aber ich bin überzeugt, dass unser Ort ukrainisch bleibt.» Dabei könnte er bald unter russische Kontrolle geraten. Das ukrainische New York steht jetzt mitten im Krieg.
Schewtschenko ist 28, eine Ukrainisch-Lehrerin aus dem Gebiet von Donezk im Osten der Ukraine. Vor einem Jahr hat sie einen grossen Kampf gewonnen. Sie reiste nach Kiew und warb im Parlament dafür, dass ihre Heimatstadt Nowhorodske ihren historischen Namen New York zurückerhält.
Aus Nowhorodske wurde wieder New York
Der Industrieort war im 19. Jahrhundert von deutschen mennonitischen Siedlern gegründet worden, die ihn nach der amerikanischen Sehnsuchtsstadt am Hudson benannten. 1951 benannten die sowjetischen Behörden die Siedlung um, in Nowgorodskoje (ukrainisch: Nowhorodske), Neue Stadt. New York, das wirkte auf die Sowjets seltsam, nicht akzeptabel im Kalten Krieg.
Über die alten New-York-Zeiten hatte die Grossmutter der Enkelin erzählt, als sie ein Kind war. Seitdem lassen Kristina Schewtschenko die Gedanken an den berühmten vergangenen Namen nicht mehr los. Nowhorodske: ein Phenolwerk, zwei Cafés, ein Spital, sollte das alles sein? Die junge Frau wollte etwas verändern im schwierigen Alltag ihrer Heimat , die nach Kriegsbeginn im Donbass 2014 plötzlich nur sechs Kilometer von der Grenze zum Separatistengebiet lag.
Die Lehrerin überzeugte Freunde, immer mehr Bürger, Lokalpolitiker und dann auch einen Kiewer Parlamentsausschuss von der Umbenennung. Als im vergangenen Jahr aus Nowhorodske offiziell wieder New York wurde, scherzte der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba, die nächste UNO-Vollversammlung könne ja im ukrainischen New York stattfinden.
Eine neue Perspektive und mehr Buntheit, das waren die Hoffnungen von Kristina Schewtschenko und der Jugendorganisation, die sie leitet. Eine «Bakery New York» entstand, neue Schriftzüge prangten an Tankstellen und Fassaden, ukrainische Reporter kamen in die Stadt. New York, so das Kalkül, würde mehr Investoren, vielleicht sogar ein paar Touristen in die ostukrainische Kleinstadt bringen. Im Februar kam der Krieg.
Von Häusern stehen nur noch Ruinen
Wenn Russland es schafft, den gesamten Donbass, den es schon jetzt «unabhängig» nennt, unter Kontrolle zu bringen, dann wird es auch New York treffen. In den vergangenen Wochen sei der Beschuss immer heftiger geworden, erzählt Kristina Schewtschenko. «Eine Reihe von Häusern existiert nicht mehr, ausser als Ruinen. Eine wichtige Strasse in der Stadt ist zerstört, eine Zugstrecke ist beschädigt. Die Apotheken haben Lieferprobleme bei Medikamenten, und in den Lebensmittelgeschäften ist der Nachschub schwierig.»
Was ist mit dem Spital, das sie in einem Telefonat vor einem Jahr als «Katastrophe» bezeichnete, weil es seit Sowjetzeiten nicht modernisiert worden war? «Gott sei Dank ist es bisher nicht beschädigt», sagt sie, «aber in der Nähe gab es einen Einschlag.»
Vor zwei Wochen, als New York täglich unter Beschuss geriet, musste Kristina Schewtschenko die kleine Stadt verlassen. Der Regionalchef habe dazu aufgerufen, deshalb ist sie in den Westen der Ukraine geflüchtet. Sie unterrichtet von dort weiter, leitet eine neunte Klasse, gibt Online-Unterricht. Einige ihrer 15 Schülerinnen und Schüler hat es im Land verstreut, aber mehr als die Hälfte ist in New York geblieben.
«Sie haben Angst», sagt die junge Frau. «Sie erzählen von ihren Eindrücken, und es kommt vor, dass sie mitten im Unterricht abschalten, um in den Keller zu flüchten.» Für Russland zählt der Vormarsch an der ostukrainischen Front, nicht ein Ort namens New York. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Für Russland ist schlechter Krieg gerade besser als schlechter Frieden».)
«Aber eine kleine Rolle spielt der berühmte Name schon», sagt Schewtschenko. Freunde haben ihr den Ausschnitt einer russischen Nachrichtensendung geschickt, in der eine russische Journalistin sagt, New York werde sehr bald fallen. Die Symbolik des Namens ist verführerisch, auf beiden Seiten der Front.
New York, das ist Traum und Realität
Was einmal wird aus New York, ob es vom Krieg überrollt wird, vielleicht schon in wenigen Tagen? Das kann die Lehrerin nicht wissen. Wenn sie von ihrer Hoffnung auf einen Sieg spricht, mischen sich Überzeugung mit Optimismus und Trotz. Ihre Facebook-Seite verrät, wie der Krieg ihre Wünsche, ihre Haltung verändert hat.
Sie hatte ein Profilfoto von dem nächtlichen, verheissungsvollen amerikanischen New York eingestellt, in dem sie noch nie gewesen ist. Schewtschenko hat es ausgetauscht gegen ein Panoramafoto ihrer Heimatstadt. Industrieanlagen sind zu sehen, triste Wohnblocks, umfasst von einer Landschaft mit Sträuchern und Bäumen. Das Bild ist blau-gelb unterlegt und trägt den Schriftzug: «New York ist Ukraine».
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