Energieanlagen in SchutzgebietenWegen Ukraine-Krieg: Schweizer Umweltschutz ist plötzlich unwichtig
Ein Volksbegehren will in der Verfassung verankern, dass der Ausbau erneuerbarer Energien gegenüber dem Schutz der Natur Priorität hat. Umweltverbände sind entsetzt.
Ist die Energiewende ohne Abstriche beim Natur- und Umweltschutz machbar? Diese Frage hat seit dem Ukraine-Krieg und der Debatte über die Abhängigkeit von russischem Gas eine erhöhte politische Temperatur – und diese könnte nun weiter steigen. Grund ist eine neue Volksinitiative. Ihr Titel: «Jede Kilowattstunde zählt». Das Begehren will den Ausbau der erneuerbaren Energien als prioritäres Ziel in der Verfassung festschreiben.
Urheber ist der Verband Swiss Small Hydro, der sich für die Interessen der Kleinwasserkraft einsetzt. Das sind jene rund 1500 dezentralen, vergleichsweise kleinen Wasserkraftwerke, die pro Jahr gegen 6,5 Terawattstunden Strom produzieren, also etwa 15 Prozent der gesamtschweizerischen Wasserkraftproduktion. Ihre Pläne haben die Initianten schon anfangs Februar publik gemacht. Inzwischen haben sie den Initiativtext ausgearbeitet; er liegt dieser Redaktion vor.
Martin Bölli ist Geschäftsleiter des Verbands. Er sieht das Potenzial der Kleinwasserkraft noch nicht ausgeschöpft. Er spricht – optimale politische Rahmenbedingungen vorausgesetzt – von zusätzlichen 1 bis 1,5 Terawattstunden. Der Bund rechnet mit etwa der Hälfte davon. Für Bölli gilt aber so oder so: «Das wäre vor allem ein wichtiger Beitrag für die Winterstromproduktion.»
Die Schweiz ist heute im Winter auf Stromimporte angewiesen. Ob sie in Zukunft genügend einführen kann, ist aus verschiedenen Gründen nicht sicher; einer davon ist das fehlende Stromabkommen mit der EU, ein anderer, dass mit der zunehmenden Elektrifizierung des Verkehrs und der Heizsysteme in den Gebäuden der Strombedarf insgesamt steigt.
Fördergrenze soll fallen
Indes, der Ausbau der Kleinwasserkraft kommt nicht vom Fleck, wie die Initianten kritisieren. Die Politik spricht finanzielle Förderbeiträge nur für Anlagen mit mehr als 1 Megawatt Leistung. Das sei eine kritische Grenze, sagt Bölli. Viele Anlagen lägen just knapp darüber oder darunter, so etwa das Wasserkraftwerk Waldemme im luzernischen Entlebuch, das sich aktuell im Bau befindet. Ursprünglich war es laut Bölli grösser geplant, aufgrund diverser Einsprachen ist es jedoch deutlich verkleinert worden – mit der Folge, dass es nun unter die Fördergrenze fallen könnte.
Die Förderung der erneuerbaren Energien braucht dringend neue Impulse.»
Ein anderer Fall betrifft eine 120-jährige Anlage im sankt-gallischen Toggenburg, der dasselbe Schicksal droht. Der Grund: Die Konzession muss erneuert werden, was strengere Umweltauflagen mit sich bringt: Im Bach unterhalb der Anlage muss künftig mehr Wasser fliessen, was die Leistung des Werks drosselt. Die Fördergrenze, sagen die Initianten, solle deshalb fallen.
Die Initiative fokussiert nicht nur auf die Kleinwasserkraft, sondern auf alle einheimischen erneuerbaren Energien. Bölli betont das im Gespräch mehrmals. Die Interessenkonflikte seien vielfältig, die Windkraft etwa komme aufgrund enorm aufwendiger Bewilligungsverfahren kaum voran, die Rechtspraxis beim Bau alpiner Solaranlagen sei noch nicht ausgereift. «Die Förderung der erneuerbaren Energien braucht dringend neue Impulse», sagt Bölli.
Das nationale Interesse am Ausbau der erneuerbaren Energien soll deshalb neu mehr Gewicht erhalten als andere nationale Interessen wie etwa der Natur- und Heimatschutz. «Es soll einfacher werden, Energieanlagen auch in Schutzgebieten zu erstellen», sagt Bölli. Bund, Kantone und Gemeinden sollen sich gemäss Initiativtext deshalb dafür einsetzen, den Ausbau «vorbehaltlos, zeitnah und diversifiziert» zu ermöglichen.
«Solche Sonderrechte beansprucht heute nicht einmal das Militär und schon gar nicht die Landwirtschaft.»
Bürgerliche Parlamentarier wälzen ähnliche Pläne. Ob diese jemals realisiert werden, ist indes offen, eine wichtige Vorlage – das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien – hängt im Parlament. Die Initianten verstehen ihr Begehren nicht zuletzt als Druckmittel. Die Initiative liegt derzeit zur Prüfung bei der Bundeskanzlei, die Lancierung ist frühestens diesen Herbst geplant. Die Initianten wollen abwarten, wie die Vorlage im Detail aussieht, nachdem der Ständerat sie – wohl in der Herbstsession – behandelt hat.
Die Initiative hat Konfliktpotenzial, dessen sind sich die Initianten bewusst. Bölli versichert aber: «Wir wollen nicht gegen den Umwelt- und Naturschutz ankämpfen.» Schutz und Nutzung seien parallel möglich. Als Beispiel nennt er die Engstligenalp im Berner Oberland, die im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN) eingetragen ist, also zu den wertvollsten Landschaften der Schweiz gehört. Hier produziert eine Kleinwasserkraftanlage seit Jahrzehnten Strom – «ohne dass es jemanden stört», sagt Bölli.
Umweltverbände glauben den Beteuerungen der Initianten nicht. Raimund Rodewald, der Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz, sieht im Volksbegehren einen «Freipass», Kraftwerke an jeglichen Orten zu errichten. Er meint damit etwa geschützte Auen, Wasservogelgebiete, Naturpärke oder «unsere national geschützten Landschaftsperlen». «Solche Sonderrechte», sagt Rodewald, «beansprucht heute nicht einmal das Militär und schon gar nicht die Landwirtschaft.»
Konsens scheint brüchig
Kritik übt auch Stella Jegher von Pro Natura: «Der Schutz der Biodiversität und der Landschaft kann und muss Hand in Hand gehen mit dem Klimaschutz.» Sie verweist auf den runden Tisch Wasserkraft, an dem sich im letzten Winter Kantone, Wasserwirtschaft und Umweltorganisationen verständigt haben: auf 15 Projekte zum Ausbau der Wasserkraft, auf die Einhaltung bestehender Schutzbestimmungen, etwa für Biotope von nationaler Bedeutung, sowie auf die ökologische Sanierung bestehender Anlagen.
Doch der Konsens wirkt brüchig: Im April hat der oberste Energiedirektor im Land, der Bündner Regierungsrat Mario Cavigelli, eine Debatte über die richtige Höhe der Restwassermengen bei Wasserkraftwerken entfacht. Cavigelli hatte die gemeinsame Erklärung mitunterzeichnet. Die Zeichen, so scheint es, stehen auch hier auf Konfrontation.
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