Schweizer Studie zu TherapienNeue Medikamente sind oft nicht wirksamer – dafür teurer
Die Mehrheit neu zugelassener Arzneien, etwa gegen Krebs, ist nicht besser als bestehende Mittel. Ein Schweizer Chefarzt kritisiert die «grenzenlose Gier» der Pharmafirmen.
Zum Beispiel Rucaparib. Das Krebsmedikament war für Patientinnen mit bestimmten Formen von fortgeschrittenem Eierstockkrebs gedacht. 2016 wurde es in den USA zugelassen, später auch in Europa. 2022 stellte sich jedoch in einer Studie heraus, dass das Medikament im Vergleich zur herkömmlichen Behandlung das Überleben verkürzt. Und das für einen stattlichen Preis: In der Schweiz kostet eine Tagesdosis rund 200 Franken.
Kein Einzelfall. Neu zugelassene Medikamente erfüllen oft die Erwartungen nicht. Das zeigt eine internationale Studie mit Schweizer Beteiligung, die soeben im Fachblatt «British Medical Journal» (BMJ) erschienen ist. Die Forschenden der Universität Zürich sowie der Harvard Medical School und der Yale School of Medicine in den USA untersuchten 124 Arzneimittel, die zwischen 2011 und 2020 in den USA und Europa neu zugelassen wurden, und kommen zum Schluss: Weniger als die Hälfte der Medikamente brachte im Vergleich zur bestehenden Behandlung einen therapeutischen Nutzen. Das heisst, bei der Mehrheit der untersuchten Arzneimittel fand sich kein Nachweis, dass sie das Leben der Patienten verlängerten oder ihre Lebensqualität substanziell verbesserten.
Noch dürftiger ist die Situation bei Medikamenten, die für die Behandlung einer Krankheit bereits erhältlich waren, deren Zulassungen danach aber auf zusätzliche Krankheiten ausgedehnt wurden – Fachleute sprechen von sogenannten Indikationserweiterungen. Hier zeigten die Daten zu 335 Wirkstoffen: Ein therapeutischer Zusatznutzen ist noch seltener als bei Erstzulassungen, nämlich um rund ein Drittel. Dabei sank die Wahrscheinlichkeit für einen therapeutischen Mehrwert mit jeder zusätzlichen Krankheit, für die ein Wirkstoff zugelassen war.
Sehr teure Medikamente, die Patienten wenig bringen
«Wenn bei so vielen Zulassungen kein zusätzlicher Nutzen vorhanden ist, müssen wir uns fragen, ob wir bei der Regulierung von neuen Medikamenten auf dem richtigen Weg sind», sagt Kerstin Noëlle Vokinger. Die Professorin für Recht und Medizin an der Universität Zürich ist Erstautorin der Studie und hat bereits in früheren Arbeiten den therapeutischen Zusatznutzen von Medikamenten untersucht. Sie betont: «Der fehlende Zusatznutzen sollte sich unbedingt im Preis der Medikamente widerspiegeln.»
Auch aus Sicht von Jakob Passweg, Chefarzt der Klinik für Hämatologie des Universitätsspitals Basel, müsste sich der oft fehlende therapeutische Zusatznutzen in den Kosten niederschlagen: «Es ist sehr unbefriedigend, wenn die oft sehr teuren neuen Präparate den Patientinnen und Patienten nicht wirklich etwas bringen im Vergleich zu bisherigen, billigeren Therapien.» Als Krebsmediziner hat er erlebt, wie sich die bereits hohen Preise in den letzten zehn Jahren zum Beispiel bei Leukämie-Medikamenten mehr als verfünffacht haben. «Die Gier der Pharmafirmen ist grenzenlos», sagt Passweg, der auch Präsident des Stiftungsrats Krebsforschung Schweiz ist. Der Mediziner war nicht an der Studie beteiligt. «Alain Berset und sein Bundesamt für Gesundheit müssten stärker intervenieren, wenn sie die Gesundheitskosten in den Griff kriegen möchten.»
«Die Gier der Pharmafirmen ist grenzenlos.»
Beate Wieseler vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Deutschland schreibt in einem begleitenden BMJ-Kommentar: «Die Tatsache, dass neu nicht unbedingt besser bedeutet, muss sowohl Patienten als auch Klinikern klar vermittelt werden.» Ärztinnen und Ärzte hätten die Pflicht, den Patienten solche Informationen zur Verfügung zu stellen, damit eine angemessene Entscheidung getroffen werden könne.
Die schweizerisch-amerikanische Studie bestätigt bisherige Untersuchungen, die zeigen, dass neue Medikamente oft nicht das Versprechen der Hersteller für eine bessere Behandlung halten. Neu ist der Fokus auf die Indikationserweiterungen, die bislang nicht untersucht wurden. In der Studie hatten alle einbezogenen Arzneimittel mindestens eine solche zusätzliche Zulassung.
Die meisten Präparate sind gegen Krebs
Die meisten der im Untersuchungszeitraum zugelassenen Präparate waren dabei Krebsmedikamente, gefolgt von infektionshemmenden und immunmodulierenden Mitteln. Für die Beurteilung des therapeutischen Nutzens stützte sich das Team um Vokinger auf systematische Nutzenbewertungen von spezialisierten Einrichtungen in Frankreich und Deutschland, die für medizinische Behandlungen sogenannte Health Technology Assessments (HTA) vornehmen. Wenn nicht ausreichend Daten vorhanden waren, wurde dies als «keinen hohen therapeutischen Nutzen» klassifiziert.
Indikationserweiterungen hätten in den letzten Jahren zugenommen und würden dies wahrscheinlich in Zukunft noch vermehrt tun, sagt Vokinger. Ein Beispiel ist der Krebswirkstoff Pembrolizumab (Keytruda), ein sogenannter Immun-Checkpoint-Inhibitor. Dessen ursprüngliche Zulassung für die Behandlung von fortgeschrittenen Melanomen wurde später auf gewisse Arten von Lungenkrebs, Kopf-Hals-Karzinomen und vielen weiteren Tumoren erweitert. In den USA sei das Medikament heute für 30 Zusatzindikationen zugelassen, in Europa für 15, schreiben die Autoren. Bei diesem Medikament sei für die Erstzulassung ein therapeutischer Nutzen feststellbar, nicht jedoch für alle erweiterten Indikationen, so Vokinger.
«Patienten brauchen bessere Behandlungen, nicht nur mehr vom Gleichen.»
«Für Hersteller sind solche Erweiterungen attraktiv, weil dadurch ein Teil des finanziellen Aufwands für die Wirkstoffentwicklung wegfällt», sagt Vokinger. Bei einigen Medikamenten übersteigen die Verkaufszahlen für die Anwendung bei den zusätzlichen Krankheiten diejenigen der Erstzulassung. Wie die Studie zeigt, werden dadurch aber oft nicht bessere Therapien entwickelt. Die Gefahr bestehe, dass damit teilweise Ressourcen gebunden würden, die für die Entwicklung besserer Medikamente fehlen würden, so Vokinger.
Eine ähnliche Problematik besteht bei sogenannten «Me too»-Produkten, bei denen die Konkurrenz ein erfolgreiches Präparat in einer leichten Variation auf den Markt bringt. «Patienten brauchen bessere Behandlungen, nicht nur mehr vom Gleichen» lautet denn auch der Titel des BMJ-Kommentars von Beate Wieseler. Die derzeitige Leistung des Systems, das zu neuen Therapien führen soll, entspreche nicht den Erwartungen der Patienten und der Öffentlichkeit, der Kliniker und der politischen Entscheidungsträger, schreibt sie. «Wir sollten die derzeitige Gesetzgebung zur Arzneimittelentwicklung enger mit den Zielen der öffentlichen Gesundheit abstimmen.»
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