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Klimaschonendes Reisen
Nachtzüge sind beliebt  – doch die SBB haben den Anschluss verpasst

Abends in Zürich einsteigen, morgens in Hamburg aufwachen: Eine Familie reist mit dem Nachtzug nach Deutschland. 

Schummriges Licht, das ständige Ruckeln und eine Wolldecke, die kaum über die Füsse reicht. Das Reisen im Nachtzug ist für die einen schlicht unbequem und nervenaufreibend. Für andere wie Corinne D. ein nostalgisches oder gar romantisches Abenteuer.

Wenn die heute 51-Jährige von ihrer bislang aufregendsten Fahrt erzählt, ist ihr Grinsen am Telefon nicht zu überhören. Sie ist allein unterwegs, als im Frühling 2011 in Kopenhagen Florian M. in ihr 4er-Abteil steigt. Sie haben sich bereit erklärt, hier ihre Geschichte zu erzählen. Möchten aber nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen.

«Wir hatten das Abteil zuerst für uns, und wie immer im Nachtzug kommt man mit dem Gegenüber schnell ins Gespräch», sagt D. Und zwar so, wie es vielen ergeht: «Florian sprach mich auf Englisch an, bis wir irgendwann realisierten, dass wir beide Deutsch sprechen!» Es habe sofort harmoniert: «Wir realisierten, dass wir beide in einer ähnlichen Lebenssituation sind», sagt die Wahlbernerin. Beide hatten sich kurz vorher getrennt, sie wollten für eine Weile Single bleiben.

Wäre da nicht diese Begegnung gewesen.

Neues Rekordjahr in Aussicht

Von Billigflügen verdrängt, erlebt das Reisen mit dem Nachtzug seit einigen Jahren eine Renaissance. «2019 ist eine Trendwende eingetreten», sagen die SBB. Ohne dass die Bundesbahnen das Angebot angepasst hätten, waren die Passagierzahlen auf einmal um 25 Prozent gestiegen.

Nach den bremsenden Pandemiejahren verbuchten die SBB letztes Jahr einen Rekord: Eine halbe Million Frauen, Männer und Kinder fuhren 2022 in einem Nachtzug in die oder aus der Schweiz. Und die Nachfrage steigt weiter. «Auch das Jahr 2023 entwickelt sich sehr erfreulich», so eine SBB-Sprecherin. Auf vielen Strecken sind die Schlafwagen bis in den September hinein praktisch ausgebucht. 

Fahrgäste suchen in einem Nightjet der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) ihren Sitz- respektive Liegeplatz. Viele Nachtzüge sind bis in den September hinein praktisch ausgebucht.

Es bahnt sich erneut ein Rekord für das laufende Jahr an. Gegenüber 2022 sind die Buchungen bislang um 45 Prozent gestiegen. Wobei zu beachten ist, dass der Jahresbeginn 2022 wegen Corona nicht so stark ausgelastet war.

Für die Nachtzugpopularität gibt es zwei Gründe: Einerseits ist Fliegen seit Corona teurer geworden. Andererseits steigt das kollektive Umweltbewusstsein.

Corinne D. findet das Nachtzugfahren ausserdem sehr praktisch: «Man kann sich eine Hotelübernachtung sparen, und wenn man ankommt, hat man den ganzen Tag noch vor sich.» Sie habe ausserdem zahlreiche interessante Leute getroffen: «Da viele nicht so gut schlafen können, hat man auch die Zeit, jemanden kennen zu lernen.» So wie Florian M.

«Wir plauderten sechs Stunden lang durch!», sagt die Wahlbernerin und lacht. Um 4 Uhr morgens musste er jedoch umsteigen, da er damals noch in Tirol lebte. Sie fuhr weiter nach Bern.

Die Österreicher bauen munter aus…

Kopenhagen, aber auch Barcelona oder Rom: Solche Städte wurden von den SBB früher über Nacht angefahren. Im Jahr 2009 jedoch stellten sie die eigenen Nachtzugverbindungen aus wirtschaftlichen Gründen ein.

Seither sind die SBB auf ausländische Kooperationspartner angewiesen, die Nachtzüge anbieten. Treibende Kraft im gesamten europäischen Nachtzuggeschäft sind die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB). Sie betreiben zwei Dutzend Nightjet-Linien und investieren munter weiter. 

Kürzlich hat das Unternehmen für mehrere Hundert Millionen Euro über 30 neue Nightjets bestellt. Die ÖBB wollen das Angebot bis 2026 massiv erweitern. Und mehr Komfort bieten: So sind kleine Kabinen für Alleinreisende vorgesehen oder mehr Stauraum für Velos oder Ski.

Auch andere Länder wie Schweden oder Norwegen reagieren auf die steigende Nachfrage und rüsten die Staatsbahnen mit neuen Nachtzugflotten aus.

… und die Schweiz profitiert

In der Schweiz hingegen warten Reisende seit Jahren auf die von den SBB angekündigten Nachtzüge nach Rom und Barcelona. Und werden immer wieder vertröstet. Auch heute können die Schweizerischen Bundesbahnen keine Zeitangabe machen, wann die Linien in Betrieb genommen werden (Kommentar: Die Schweiz sollte schleunigst in Nachtzüge investieren).

Die Voraussetzung ist gemäss einer SBB-Sprecherin nämlich, «dass das revidierte CO₂-Gesetz angenommen wird, in dem eine Unterstützung für diese Strecken vorgesehen ist». Das kann allerdings noch dauern: Das Gesetz, das bis zu 30 Millionen pro Jahr für den internationalen Fernverkehr vorsieht, kommt erst im Herbst ins Parlament. 

Nach dem Vorbild der ÖBB von sich aus zu investieren, kommt für die SBB nicht infrage. Ein Nachtzug sei «ein kleines Gefäss», erklärte Verwaltungsratspräsidentin Monika Ribar unlängst im Interview mit dieser Zeitung: «Es ist sozusagen ein ‹Hotel auf Schienen› und damit ein teures, sehr aufwendiges Produkt.»

Aline Trede, Fraktionschefin der Grünen, widerspricht: «Es geht allein um den Willen.» Dieser fehle, bei den SBB ebenso wie in der Politik. Seit zehn Jahren reicht die Berner Nationalrätin Vorstoss um Vorstoss ein, um den Nachtzügen zum Durchbruch zu verhelfen – vergeblich.

Aktivisten um Nationalrätin Aline Trede (rechts) demonstrieren 2015 in Pyjamas für die Erhaltung des Nachtzugs im Zürcher Hauptbahnhof. «Es geht allein um den Willen», sagt Trede, die sich nach wie vor für ein ausgebautes Angebot engagiert.

Als sie damit anfing, fuhren die Nachtzüge auf den noch bestehenden Linien mit leeren Plätzen. Das hat sich inzwischen gründlich geändert, wie Trede aus eigener Erfahrung weiss.

Heute führt selbst sorgfältige Planung nicht immer zum Erfolg. Sie wollte bereits im Februar für ihre Familie die Fahrt in die Sommerferien buchen, doch es gab im Nachtzug nach Hamburg an den Wunschdaten keine Plätze mehr. Den Tredes blieb nichts anderes übrig, als mitten in der Woche zu fahren. 

Ungeduscht, schlaflos, verspätet am Ziel

Selbst wenn es gelungen ist, einen oder mehrere Plätze im Wunschzug zu ergattern, kommt es immer wieder zu Ärgernissen. 

Nachtzugreisende berichten von regelmässig gestrichenen Abteilen. Davon, dass sie statt liegend nur sitzend mitfahren können. Auch die Duschen funktionieren häufig nicht. Oder es mangelt an der Verpflegung, weil der Speisewagen geschlossen ist oder die Getränke ausgegangen sind. 

Hinzu kommt: Die Nachtzüge sind häufig verspätet. Dessen sind sich die SBB bewusst – und machen deutsche Baustellen dafür verantwortlich. Diese hätten in den letzten Jahren stark zugenommen. «Da kurzfristige Bauarbeiten hauptsächlich nachts stattfinden, ist der Nachtzug besonders betroffen», so ein Sprecher. In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres kam ein Viertel aller Nachtzüge zu spät an. 

Ein Mitarbeiter der ÖBB bereitet das Frühstück vor. Immer wieder knurrt Reisenden jedoch der Magen – weil der Speisewagen geschlossen ist.

Auch punkto Wagenausfällen räumen die SBB Probleme ein. Zwar hätten diese im Vergleich zu den Vorjahren nicht zugenommen. Aber: «Aufgrund der hohen Auslastung sind die Auswirkungen für die Reisenden grösser.» Weil die Nachtzüge derart ausgebucht sind, können Reisende nicht in andere Wagen umplatziert werden.

«Die SBB sind mit dieser Situation unzufrieden», sagt ein Sprecher deutlich. Man setze mit der Partnerbahn ÖBB alles daran, «um die Situation weiter zu verbessern». Konkreter werden die SBB nicht.

Grundsätzlich gilt: möglichst früh buchen. Die SBB raten, während der Hauptreisezeiten am Dienstag oder Mittwoch zu reisen, dann seien tendenziell mehr Plätze verfügbar.

Bei Corinne D. nahm die Fahrt 2011 ein glückliches Ende. Sie tauschte damals mit ihrem Abteilpartner die Kontaktdaten aus  – und erhielt kurze Zeit später einen Brief von ihm.

Heute sind die beiden Eltern zweier Kinder – und nahmen diese vergangenes Jahr erstmals mit auf eine Nachtzugreise. «Sie haben zwar fast kein Auge zugetan, aber fanden es ein totales Abenteuer!»