Nationale Milchaktion«Milch macht doch Freude!», jauchzt die Bäuerin – aber Städter rümpfen die Nase
Am Donnerstag war Tag der Pausenmilch. An Schulen in der ganzen Schweiz wurde sie gratis ausgeschenkt, von Menschen wie Claudia Speck aus Appenzell. Ist die Aktion noch zeitgemäss?
- Am Tag der Pausenmilch wird landesweit gratis Milch an Schulen angeboten.
- Urbanisierte Gegenden kritisieren die Aktion wegen politischer und gesundheitlicher Bedenken.
- Schulen entscheiden eigenständig über die Teilnahme am Milchtag, manche verzichten darauf.
- Milch steht in der Schweiz für Tradition, wird aber auch kritisch gesehen.
Vor dem Schulhaus in Appenzell füllt Claudia Speck Becher mit aromatisierter Milch. Ovo oder Erdbeer. Zwei Geschmäcke. Manchmal ist die Welt ganz einfach.
Es sind nur noch wenige Minuten, bis die Schulglocke klingelt. Bäuerin Speck legt einen Zacken zu beim Einfüllen. Und mit jedem Becher, jedem Gutsch scheint die Laune der Frau noch besser zu werden. «Diese Milch macht doch Freude!», jauchzt sie über den noch leeren Pausenplatz.
Speck hat gute Laune, weil der «Tag der Pausenmilch» ansteht. Die Landfrau ist Teil einer Aktion, die landesweit im Herbst an Schulen durchgeführt wird. Der Branchenverband SMP/Swissmilk spannt dabei mit dem Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverband (SBLV) zusammen. Der Weltmilchtag wurde 2001 von der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, ins Leben gerufen.
«Wir leben ja nicht hinter dem Mond»
Wer aufmerksam dem Appenzeller Jauchzer zuhörte, hat ein «doch» entnommen. In diesem kleinen Wort steckt die grosse Debatte um die Milch.
Ist Claudia Speck bewusst, dass ihre Milch nicht allen Freude macht? «Wir leben hier ja nicht hinter dem Mond.»
Speck ist in Gossau SG aufgewachsen, hat Köchin gelernt und in grossen Betrieben gearbeitet, bevor sie ihren Mann kennen lernte und ins «innere Land» zog. Die 52-Jährige bekommt mit, «was unten in den Städten geredet wird».
Einige sehen dort ihre Milch, die ihr so Freude macht, kritisch: als Teil einer nicht mehr zeitgemässen Massentierhaltung, gar als Getränk, das krank macht. «Solche Aussagen tun mir als Bäuerin weh.»
Denn was Speck an diesem Tag auf dem Schulhof in Dutzende Becher füllt, ist die Essenz ihres Lebens. «Eine gute Sache.» Für sie ist Milch ein nährstoffreiches Naturprodukt aus der Region von Tieren, denen es gut geht. «Ich weiss das, denn ich sehe es jeden Tag.»
Zusammen mit ihrem Mann führt sie auf einer nahen Anhöhe drüben in Weissbad einen Hof. Die beiden begannen mit einer kleinen Fläche und bewirtschaften heute 32 Hektaren. Aus dem Hochzeitsgeschenk – ein Räucherofen, den sie eigentlich nie wollte – hat sie ein blühendes Geschäft gemacht. Die Fleischwaren von der Musegg sind im Appenzellerland ein Renner.
Doch der Hauptteil ihres Einkommens kommt von dem, was die 34 Milchkühe hergeben. Die Tiere sind für die Specks schlicht: «unser Leben».
Über 50’000 Liter werden schweizweit ausgeschenkt
Claudia Speck ist darum die ideale Botschafterin für ein Produkt, das an diesem Tag in Massen fliessen wird. Über 50’000 Liter wurden, so heisst es später bei Swissmilk, schweizweit ausgeschenkt. 2100 Schulen und Kitas machten mit bei der Grossoffensive für die Milch.
Laut diversen kantonalen Schulbehörden entscheiden Schulleiterinnen und Schulleiter vor Ort selber über eine Teilnahme. In der Schule im Appenzeller Kantonshauptort ist dieser Tag fix im Kalender. «War schon immer so», sagt die Schulleiterin sec. Sie ist beim Tisch von Claudia Speck vorbeigekommen und hat sich einen Becher geschnappt, Ovo. «Prost», sagt die Pädagogin fröhlich.
Gezuckerte Milch sorgt in Appenzell für keine Debatte. In urbanen Zonen hingegen, im Mittelland, «in der Stadt unten, wo Hafer- und Sojamilch boomen», wie Bäuerin Speck sagt, ist der Tag der Pausenmilch ein Politikum.
So führen die Schulen in der Stadt Bern den Aktionstag nicht mehr durch. Auch wurde die Zusammenarbeit mit Swissmilk laut dem Berner Gesundheitsdienst aufgrund eines politischen Vorstosses beendet. Die Kritik, dass mit den Znüniböxli in den Schulen eine Werbeplattform zur Verfügung gestellt werde, sei zu gross geworden.
Auch in Basel oder Zürich gibt es mehrere Schulen, die die Pausenmilch nicht mehr servieren. Die Gründe sind divers. Während manche Schulen Sponsoring durch Unternehmen und Verbände grundsätzlich kritisch sehen, geht es für die anderen um die Milch an sich.
Die Schule in Wallisellen ZH zum Beispiel schreibt auf Anfrage: «Die Haltung zum Milchkonsum ist heute bei den Schulen wie bei den Eltern sehr unterschiedlich, weshalb wir uns diesbezüglich für eine neutrale Verhaltensweise entschieden haben.»
Bei der Milch gibt es einen Glaubenskonflikt
Doch Neutralität ist in Bezug auf das Schweizer Traditionsgetränk mittlerweile eine schwierige Sache. In Teilen der Gesellschaft ist ein Glaubenskonflikt um die Milch entbrannt, der mit sich widersprechenden Studien unterlegt wird. Tierschutzorganisationen kritisieren die Haltung von Kühen, der Interessenverband für vegan und vegetarisch lebende Menschen warnt gar vor dem Konsum. Die Vorwürfe sind happig. Milch soll von Diabetes über Akne bis zu Herzproblemen zahlreiche Erkrankungen verursachen.
Für Swissmilk ist die Milch hingegen ein «Grundnahrungsmittel, das eine ausgewogene Ernährung gewährleistet». Damit folgt der Verband den Ernährungsempfehlungen des Bundes.
Die Milchwirtschaft, mit einem Anteil von 20 Prozent noch immer der wichtigste Sektor in der Schweizer Landwirtschaft, kann sich dabei zudem auf das landwirtschaftliche Kompetenzzentrum Agroscope im Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung berufen. Dort sagt die Ernährungswissenschaftlerin Barbara Walther: «Kuhmilch liefert viele wertvolle Nährstoffe, insbesondere hochwertige Proteine und gut verfügbares Kalzium. Daneben aber auch wichtige Vitamine.»
Kurz: Milch verfügt über eine grosse Nährstoffdichte.
Agroscope empfiehlt darum zwei bis drei Portionen Milch und Milchprodukte pro Tag. Das gilt jedoch nicht für alle. Rund jede fünfte Person hat in der Schweiz eine Laktoseintoleranz. «Laktoseintolerante greifen besser auf laktosefreie Milch oder gereiften Käse zurück», so Walther. «Für die anderen aber ist der Konsum in den empfohlenen Mengen unproblematisch.»
In der Appenzeller Schule läutet die Glocke. Die grosse Pause kurz vor 10 Uhr. Schülerinnen und Schüler strömen aus dem Gebäude und schnappen sich einen Becher, artig sagen alle Danke. Claudia Speck nickt zufrieden. Kommentare oder das Verteilen von Flyern spart sie sich.
Diesen Heranwachsenden muss man Milch nicht erklären. Viele wachsen hier auf Bauernbetrieben auf oder in unmittelbarer Nachbarschaft dazu. Für sie ist Milch Alltag: als Rohmilchdrink zum Zmorge, Gschwellti mit Käse zum Zmittag, im Auflauf zum Znacht.
Claudia Speck sagt: «Milch ist für uns omnipräsent. Und sie steht für unseren Lebensentwurf.»
Kritik an der Milch versteht sie demnach auch als Kritik an ihrer Lebensweise, die von der Landwirtschaft und der Nähe zur Natur geprägt ist. Entsprechend emotional wird das Lebensmittel verhandelt, das zu 87 Prozent aus Wasser besteht.
Denn nicht nur für die Appenzeller Bäuerin ist die Milch noch viel mehr. Sie ist ein Symbol für die Schweiz. Das beschreibt Peter Moser im Buch «Milch für alle».
Der Leiter des Archivs für Agrargeschichte zeigt auf, wie der Milch mit dem Ende des Ersten Weltkriegs eine zentrale Rolle bei der Versorgung der Bevölkerung eingeräumt wurde. Moser sagt: «Die Versorgung mit dem Getränk wurde von Behörden und Milchindustrie zusammen zum Service public ernannt.»
Milch als Symbol für Wohlstand
Auch wenn der Konsum von Trinkmilch nach dem Zweiten Weltkrieg stetig abnahm – die Milch blieb. Ihr Image als Nationalgetränk ebenfalls. Milch stand für die Verfügbarkeit von Essen.
«Bis in die 50er-Jahre definierte man sich über das, was man zu sich nahm», sagt der Historiker. «Danach aber begannen sich viele über das zu definieren, was sie wegliessen.»
Für Peter Moser ist die Debatte über die Kuhmilch darum vor allem eines: Ausdruck einer Gesellschaft, die davon ausgeht, dass nährstoffreiche Lebensmittel jederzeit vorhanden sind.
Die grosse Pause ist vorbei. Kaum eine Schülerin oder ein Schüler hat im Appenzeller Schulhaus auf die Gratismilch verzichten wollen. Während Claudia Speck zusammenräumt, erzählt sie von diesem jungen Städter, der zum Landdienst auf ihren Hof kam.
Kritisch sei er in Bezug auf die Milch gewesen. Aber dann hat er bei seinem Besuch den Aufwand gesehen, wie die Tiere gehalten wurden. «Am Abend hat er dann die Tasse mit der Milch gestreichelt und gesagt: Da steckt viel Arbeit drin!»
Ihn hat sie überzeugen können.
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