Tierwohl in der LandwirtschaftDie Milch fürs gute Gewissen
Erste Grossverteiler zeigen Interesse daran, Milchprodukte aus Mutter-Kalb-Haltung zu verkaufen. Üblich ist heute, dass die Kälber nach der Geburt von ihren Müttern getrennt werden.
Bringt eine Milchkuh ein Kalb zur Welt, dauert es meist nur Minuten oder wenige Stunden, bis das Kleine von der Mutter separiert wird und in ein «Kälberiglu» kommt. Was nett tönt, ist in der Regel eine Kunststoffbox, in der das Neugeborene abgelegt wird.
Zwar bekommen die Kleinen dort zuerst Schoppen mit Biestmilch, die hohe Konzentrationen an Abwehrstoffen enthält, und manchmal auch noch länger Vollmilch. Aber die herkömmliche Kälberhaltung sieht nicht vor, dass die Jungen bei ihren Müttern trinken. Deren Milch wird stattdessen der Molkerei verkauft und ist damit den Menschen vorbehalten.
Fast 300 Kilogramm Milchprodukte werden in der Schweiz jährlich pro Person konsumiert. Zwar ist der Verbrauch von Trinkmilch rückläufig, doch insbesondere jener von Käse steigt. Um diese Mengen zu erwirtschaften, gebären Schweizer Milchkühe jedes Jahr über eine halbe Million Kälber. Denn nur wenn eine Kuh etwa einmal pro Jahr kalbert, kann sie auch bis zu 60 Liter Milch pro Tag produzieren.
Nach drei bis fünf Wochen im Iglu kommt der Grossteil der Kälber auf einen Mastbetrieb. Allerdings haben sie dann noch nicht genügend Antikörper gegen die vielen unterschiedlichen Keime gebildet, die andere Kälber von verschiedenen Höfen in die Gruppe tragen. Die Folge: Viele Kälber erkranken, insbesondere an Atemwegsinfektionen, fast jedes zweite braucht Antibiotika.
Evelyn Scheidegger ist Ökonomin und Bäuerin, sie sagt: «Das müsste nicht sein.» Sie und ihr Mann haben schon vor Jahren auf die sogenannte muttergebundene Kälberaufzucht umgestellt. Es gibt verschiedene Formen dieser Haltung. Auf manchen Höfen dürfen Kalb und Mutter permanent zusammen sein, auf anderen für ein paar Stunden oder nur über den Tag. Gemeinsam haben sie aber alle: Jede Kuh säugt ihr eigenes Kalb.
Sechs Monate darf der Nachwuchs auf Scheideggers Hof im Emmental bei der Mutter sein. «Seit wir das so praktizieren, brauchen wir nur noch einen Bruchteil an Medikamenten für die Kälber», sagt die Bäuerin. Auch seien Jung- und Muttertiere weniger gestresst.
Seit genau vier Jahren ist diese Haltung in der Schweiz erlaubt. Doch umgestellt haben erst 23 Betriebe. Denn die tierfreundliche Methode hat einen grossen Nachteil: Es bleibt etwa ein Drittel weniger Milch für den Verkauf. «Das ist etwa die Menge, welche die Kälber brauchen», sagt Scheidegger.
Darum hat sie den Verein Cowpassion gegründet. Dessen Lösungsansatz: Der Milchpreis wird um den vom Kalb getrunkenen Anteil erhöht – also um rund 30 Prozent. Ein Liter Milch aus der muttergebundenen Aufzucht würde somit gut 2.50 Franken kosten. Bäuerin Scheidegger ist überzeugt davon, dass die Leute bereit sind, etwas mehr für die gemeinsame Haltung von Milchkuh und Kalb zu bezahlen.
Viele Konsumenten wüssten gar nicht, dass für die Milchproduktion immer auch ein Kalb von seiner Mutter getrennt werde. «Wäre ihnen bewusst, was für liebevolle Mütter Milchkühe sind, wären die meisten schon bereit, ein paar Rappen mehr für ihre Milch zu bezahlen», sagt sie. Das Beispiel Hafermilch zeige es ja: Konsumentinnen und Konsumenten zahlen dafür bis zu 3.75 Franken pro Liter.
Wie Recherchen der SonntagsZeitung zeigen, sind derzeit zwei Grossverteiler in der Schweiz daran interessiert, ihr Sortiment mit Produkten aus der muttergebundenen Kälberaufzucht zu erweitern. Von Coop ist zu erfahren, dass «Überlegungen und die Suche nach geeigneten Betrieben im Gang sind». Allerdings bedürfe es noch zahlreicher Abklärungen, etwa hinsichtlich des Mehrpreises, schreibt die Detailhändlerin. Man baue das nachhaltige Sortiment stetig aus, da man bei den Kundinnen und Kunden ein wachsendes Bedürfnis nach entsprechenden Angeboten sehe.
Und auch Lidl Schweiz will das «Angebot an tierischen Produkten mit erhöhten Tierwohlstandards» erweitern und ist deshalb an der muttergebundenen Kälberaufzucht interessiert. Man werde die Entwicklungen in diesem Bereich daher weiterverfolgen und führe laufend Gespräche mit Lieferanten, um mögliche Kooperationen zu prüfen.
Deutlich weiter in diesem Bereich sind beispielsweise die Niederlande. Dort bietet Albert Heijn, die grösste Supermarktkette, seit eineinhalb Jahren Trinkmilch mit dem Namen «Kälberliebe» an. Sie stammt aus Mutter-Kalb-Haltung – und sie ist ein Erfolg. «Weil die Nachfrage stetig wächst, kommt bald noch Joghurt dazu», schreibt Albert Heijn.
Überzeugt, dass es auch in der Schweiz einen Markt für solche Milchprodukte gibt, ist auch Cornelia Buchli. Sie ist Tierärztin und Leiterin der Fachstelle Mutter-Kalb-Haltung (kurz Muka). Sie konnte mit einer Studie, die im «Journal of Diary Science» veröffentlicht wurde, aufzeigen, dass muttergebundenen Haltung und Milchproduktion möglich ist. Sie sagt: «Zurzeit ist es lediglich eine Nische, aber es ist ein Anfang.»
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