Subtile BeeinflussungWie Firmen mit unserem Spieltrieb Kasse machen
Migros und Coop machen im Kleinen, was Firmen weltweit noch viel raffinierter betreiben: Mit spielerischen Elementen heizen sie ihre Verkäufe an. Doch die Gamifizierung hat eine dunkle Seite.
Die Schweiz steckt im Sammelfieber. An den Supermarktkassen von Migros und Coop heisst es jetzt und in den nächsten Wochen: «Sammeln Sie Stickers?» Wie sich zeigt, läuft vor allem die Playmobil-Mania der Migros auf Hochtouren.
Es sind nicht nur Kinder, die in der Nachbarschaft und bei ihren Grosseltern nach Stickers fragen. Im Internet ist in den letzten Tagen ein lebendiger Zweitmarkt entstanden. Das vollständige sechsteilige Playmobil-Set wurde auf dem Onlinemarktplatz Ricardo für bis zu 500 Franken verkauft. Sogar die Kleberli werden auf Ricardo und Tutti verkauft – zu vergleichsweise stolzen Preisen: Für ein volles Sammelheft mit 20 Stickern bietet jemand 35 Franken, für zwei Hefte 58 Franken.
Die Migros hat die Sammelpromotion raffiniert eingefädelt: Die fünf limitierten Sets können nur ersammelt und nicht gekauft werden. Einige Kundinnen und Kunden jedoch wollen nicht so viel einkaufen oder so lange warten. Sie bezahlen lieber für die Stickers, die sie beim Einkauf kostenlos erhalten würden.
Glücksräder, Quiz und digitales Golfspiel
Die Sammelaktionen der Grossverteiler sind Beispiele für die sogenannte Gamifizierung. Das heisst, es werden in nicht-spielbezogenen Kontexten Spielelemente verwendet. Es gibt sie schon seit Jahren. Mit der Verbreitung des Smartphones als wichtigstes Interaktionsmittel jedoch hat die Gamifizierung ein neues Level erreicht.
Man klickt auf einen Link einer Shopping-Seite, und bevor man irgendwelche Produkte sieht, erscheint ein Glücksrad. Mit einem weiteren Klick setzt man es in Bewegung – und gewinnt prompt einen 100-Franken-Gutschein. So lockt der chinesische Onlinehändler Temu erfolgreich neue Kundinnen und Kunden an.
Das Glücksrad ist ein typisches Beispiel für Gamifizierung. Andere Anbieter setzen auf Punkte, Abzeichen, Bestenlisten und vieles mehr. Unternehmen nutzen diese Elemente, um die Kundschaft zu binden, den Umsatz zu steigern und Mitarbeitende zu motivieren.
Bekannt ist das Prinzip aus den Fitness-Apps. Fitbit oder Strava animieren die Nutzerinnen und Nutzer zum Dranbleiben mit virtuellen Abzeichen für das Erreichen von Meilensteinen, Bestenlisten und dem Vergleich von Abschnittszeiten für Laufstrecken. Sprachen lernen mit Apps wie Duolingo soll Spass machen, indem man Punkte, Spielgeld oder digitale Edelsteine gewinnt und neue Levels freischalten kann.
Auch in der traditionell analogen Welt halten digitale Spielelemente Einzug: Der Autoimporteur Amag feiert das 50-Jahr-Jubiläum des VW Golf mit einem «unterhaltsamen digitalen Golf-Spiel». Die Pensionskassen-Sammelstiftung Profond versucht, mit einem Onlinequiz Pensionskassenthemen einer jüngeren Generation näherzubringen.
Die Schweizer Finanz-App Yuh animiert zur häufigen Nutzung mit der eigenen Kryptowährung Swissqoin. Sie funktioniert als Treueprogramm ähnlich wie die Cumulus- oder Supercard-Punkte.
Grosses Manipulationspotenzial
Auch in Personalabteilungen von Firmen auf der ganzen Welt werden spielerische Mechaniken eingesetzt, um Mitarbeitende zu rekrutieren, einzuarbeiten und zu schulen. Bewerbungsprozesse beinhalten gamifizierte Elemente für Persönlichkeitstests. Der US-Detailhändler Walmart verwendet ein Computerspiel, um sicherzustellen, dass seine Mitarbeiter die Sicherheitsrichtlinien kennen.
Der Markt wächst rasant. Der weltweite Gesamtumsatz, der aus Produkten und Dienstleistungen im Zusammenhang mit Gamifizierung generiert wird, hat sich gemäss Schätzungen seit 2016 auf 15 Milliarden Dollar verdreifacht. Bis 2029 soll er sich nochmals mindestens verdreifachen, auf 49 Milliarden Dollar. Das ergäbe ein Wachstum von 25 Prozent pro Jahr, so die Prognose der indischen Marktforschungsfirma Mordor Intelligence.
Der Grund für den Boom: Gamifizierung funktioniert. Sie nutzt clever die menschliche Psychologie – und die menschlichen Schwächen. Das spielerische Element beeinflusst Motivationen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Kundschaft. Die Playmobil-Mania der Migros zeigt, wie Gamifizierung das Engagement der Kunden erhöht und diese ans Unternehmen bindet. Der Gewinn am Temu-Rad aktiviert Glückshormone.
Aussicht auf Gewinn verleitet zu unüberlegtem Verhalten
Gamifizierung ist sinnvoll, wenn sie uns dazu bringt, regelmässig zu Lern-Apps zurückzukehren oder im Fitnesstraining dranzubleiben. Aber sie hat eine dunkle Seite: Sie entfaltet ein grosses Manipulationspotenzial. Gamifizierung wird nicht selten auf fragwürdige Weise eingesetzt und fördert damit schädliches Verhalten oder gar Sucht.
Spasselemente lenken unsere Aufmerksamkeit weg vom Preis, von der Qualität und anderen Eigenschaften des Produkts und hin zu einem Verhalten, das gut für die Gewinnmarge der Anbieter, aber schlecht für unser Portemonnaie oder unsere Gesundheit ist. Das geschieht so subtil, dass wir daran auch noch Spass haben.
Firmen können mit spielerischen Elementen mehr verkaufen oder höhere Preise realisieren. So lockt der Fastfood-Gigant McDonald’s mit der Aussicht auf einen grossen Gewinn in seinem Monopoly-Werbespiel zu Mehrkonsum. Die Gewinnchancen sind dabei minim.
Der Gewinn am Temu-Rad aktiviert Glückshormone, verleitet zu unüberlegten Käufen und dazu, persönliche Daten preiszugeben. Denn den Gutschein gibt es nur im Tausch gegen die Handynummer. Es ist auch kein echter Gutschein, bloss ein Rabatt auf Käufe mit Mindestbestellwert, der jedoch nur einen einzigen Tag lang gültig ist. Auch bei der Migros muss seine E-Mail-Adresse angeben, wer prüfen will, in welcher Filiale das gewünschte Playmobil-Set verfügbar ist.
Wenn Finanz-Apps zum Sparen animieren, kann das gut sein für das Portemonnaie der Kundschaft. Aber manche animieren mit Spielen zu häufigem Kaufen und Verkaufen, was letztlich nur die Kassen der App-Betreiber füllt.
Dem Finanzdienstleister Robinhood etwa wird vorgeworfen, unerfahrene Sparer und Sparerinnen mit Gamifizierung zu irrationalen Anlageentscheidungen zu verleiten. Die US-Börsenaufsicht SEC führte vor einem Jahr neue Regeln ein, um die Gamifizierung von Finanz-Apps einzuschränken. Schon im Vorfeld stoppte Robinhood eine Animation, die beim ersten Handel des Kunden Konfetti über den Bildschirm regnen liess.
Gravierend sind die negativen Auswirkungen in der Wettspielindustrie, die massiv auf die Gamifizierung setzt, um Kunden ständig zum Wetten zu verleiten. Die Legalisierung von Sportwetten in einzelnen US-Bundesstaaten hat zu gravierenden Verschlechterungen der finanziellen Situation in einkommensschwachen Regionen geführt, wie eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung zeigt.
Diese Entwicklung wird auch von der Wissenschaft kritisch beurteilt: «Gamifizierungs-Forschung und -Praxis haben sich recht schnell und einseitig entwickelt, was zu einer Vernachlässigung ethischer Überlegungen geführt hat», stellen Forschende der Universität Tampere in Finnland fest. Psychische Belastungen, Ausbeutung, übermässiger Leistungsdruck am Arbeitsplatz und Datenschutzprobleme seien die häufigsten Folgeschäden.
Dagegen scheinen die Sammelaktionen der Schweizer Grossverteiler geradezu harmlos. Dennoch gibt es in den Grundzügen Parallelen zur milliardenschweren Gamifizierungs-Industrie. Sie macht eines deutlich: Die Punkte, Abzeichen, Glücksradgewinne gibt es zwar umsonst, aber der Spass hat seinen Preis. Und es ist klar, wer dafür bezahlt.
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