Exzessiver MedienkonsumWas Bildschirmzeit mit Kindern macht
Forscher aus Australien haben in einer grossen Analyse untersucht, was über die Auswirkungen von Filmen, Spielen oder Social Media auf Kinder und Jugendliche bekannt ist. Das Ergebnis? Eltern können sich entspannen – vermutlich.
Der Tag sei auf ewig verflucht, an dem der älteste Sohn sein erstes eigenes Smartphone bekommen hat. Seither dreht sich im Denken, Handeln und Nörgeln der Familie alles um dieses Gerät und dessen Gebrauch. Der mittlerweile zum Frühteenager gealterte Handyjunkie hängt am Bildschirm, wann immer es geht. Spiele, Youtube-Shorts, Spiele, Podcasts, Spiele, chatten, Spiele, Hauptsache, Smartphone.
Alle Versuche, den Handygebrauch zu reglementieren, sind gescheitert. Der Junge brauchte etwa vier Wochen, um herauszufinden, wie sich die Kontroll-App Google Family Link manipulieren lässt. Vater und Mutter benötigten hingegen mehr als ein halbes Jahr, um zu kapieren, dass der Sohn die App manipulieren kann und diese absolut, wirklich absolut für die Tonne ist. Es nervt gewaltig, und es wirft die Frage auf: Was macht das nur mit dem Jungen, das kann doch nicht gut sein?!
Eine ernsthafte Antwort auf diese als Frage getarnte Sorge ist verblüffend schwer zu geben. Gerade hat ein Team um Taren Sanders von der Australian Catholic University eine Art Meta-Meta-Analyse zu den Effekten von Bildschirmzeit auf Kinder und Jugendliche im Fachjournal «Nature Human Behaviour» publiziert. In die Studie sind die Daten von 102 Meta-Analysen eingeflossen, die auf 2451 Einzelstudien mit 1’937’501 Teilnehmern basieren. Eine gewaltige Fleissarbeit, von der die Wissenschaftler die Aussage mitbringen, dass es sehr schwer sei, eindeutige und für Eltern breit anwendbare Aussagen zu treffen.
Widersprüchliche Effekte
Die Effekte sind teils widersprüchlich und meist zu klein, um klare Empfehlungen zu geben. Es benötige noch gewissenhaftere, noch nuanciertere Messungen und Analysen, um belastbare Aussagen zu treffen, so das Team um Sanders. Statt sich nur auf die reine vor dem Bildschirm verbrachte Zeit zu kaprizieren, sei es wichtig, sich stärker auf die konsumierten Inhalte, den Kontext und die Umstände des Gebrauchs zu fokussieren. Mit anderen Worten: Es ist weniger wichtig, wie viel Zeit Kinder und Jugendliche vor Displays verbringen, entscheidend ist mehr, was sie in dieser Zeit machen.
Trotzdem: «Das ist eine sehr gut gemachte Meta-Studie», sagt Malte Elson, Professor für die Psychologie der Digitalisierung an der Universität Bern. «Die Arbeit sollte aber vor allem als Versuch gelesen werden, methodische Probleme im Forschungsfeld präzise zu beschreiben.» Auch Elson weist darauf hin, dass sich aus der Analyse kaum konkrete Handlungsempfehlungen für die Nutzung elektronischer Medien ableiten lassen. «Das Paper gibt keinen Anlass für Eltern, den Umgang mit dem Medienkonsum ihrer Kinder zu verändern.»
Es bleibt also eine Lücke, die sich kaum schliessen lässt: «Exzessive Bildschirmnutzung ist die grösste Sorge, die Eltern in den Staaten des Westens in Bezug auf die Gesundheit und das Verhalten ihrer Kinder haben», schreiben die australischen Forschenden in «Nature Human Behaviour». Und weiter: «Allerdings ist die Evidenz unzureichend, um die Sorgen der Eltern zu begründen.» 2019 haben Forschende dies in einem Editorial in der Fachzeitschrift «The Lancet», auf das sich auch das Team um Sanders bezieht, prägnant auf den Punkt gebracht: «Unser Wissen über den Nutzen, den Schaden und die Risiken der sich so rasch wandelnden digitalen Landschaft ist schlicht mangelhaft.»
«Wenn Mediennutzung mit starken Effekten in Verbindung stehen würde, müssten diese auch leicht zu identifizieren sein.»
Gehör finden primär die digitalen Untergangspropheten, die den Sorgen der Eltern Nahrung geben. Ein Umstand, der vermutlich von jeher in Verbindung mit neuen Technologien zu beobachten ist. So verweisen die Forscher um Sanders darauf, wie oft neue Medien im Laufe der Geschichte Panik auslösten: Im 16. Jahrhundert galten Bücher als zerstörerisch, im 19. Jahrhundert kursierten Warnungen, dass schulisches Lernen Kinder verrückt mache, später entzündeten sich Sorgen am Radio und natürlich am Fernsehen.
Also, was nun? Die Forscher um Sanders haben sich bemüht, die Effekte aus der ja doch sehr umfangreichen Fachliteratur thematisch aufzudröseln. So identifizierten die Wissenschaftler einen leicht negativen Zusammenhang von Bildschirmzeit und Lesefähigkeit. Wenn Eltern allerdings mit ihren Kindern zusammen zum Beispiel fernsehen, dann liess sich ein umgekehrter Effekt beobachten: Die Lesefähigkeit der Kinder und Jugendlichen fiel besser aus.
Vermutlich, so das Team, wählten Eltern eben andere Inhalte aus, wenn sie zusammen mit Kindern etwa fernsehen. Oder, noch eine Möglichkeit, sie stellen schlicht Fragen zu den Inhalten und vertiefen so das Denken ihrer Kinder. Die beschriebenen Effekte in der Meta-Meta-Analyse sind jedoch allesamt klein. «Das ist aber keine Überraschung», sagt Elson, «wenn Mediennutzung mit starken Effekten in Verbindung stehen würde, müssten diese auch leicht zu identifizieren sein.»
Evidenz zu schwach für konkrete Handlungsempfehlungen
Ähnlich gegensätzlich fielen auch die Effekte in Bezug auf Videospiele aus. Diese standen in Zusammenhang mit einer etwas schlechteren körperlichen Verfassung und leicht vermindertem Lernerfolg. Jedoch profitierten Kinder aber offenbar von Spielen, wenn diese denn explizit Lernziele zum Inhalt hatten. Ob auf körperliche Bewegung ausgerichtete Videospiele die Fitness von Kindern und Jugendlichen verbessern, liess sich hingegen nicht sagen.
Am Ende geht es schlicht darum, dass das Kind nicht ganz im Gerät verschwindet und wenigstens gelegentlich ein bisschen anwesend ist.
Das Problem sei, sagt Elson, dass die meisten Primärstudien in dem Feld von mangelhafter Qualität und deshalb auch die darauf aufsetzenden Meta-Analysen nicht besonders hochwertig seien. Insgesamt entsprachen lediglich 20 Prozent der in den untersuchten Meta-Analysen identifizierten Effekte den statistischen Anforderungen des Teams um Sanders. Die Effekte von Social Media fielen immerhin konsistent aus: Hier zeigte sich ein jedoch kleiner Zusammenhang der Nutzungsdauer mit schlechteren Gesundheitsparametern. Hinweise auf einen möglichen Nutzen gab es keine.
Die Botschaft der umfangreichen Arbeit der Wissenschaftler aus Australien also lautet: Die Evidenz zu den Effekten von Bildschirmzeit ist zu schwach, um klare Handlungsempfehlungen zu geben. Am täglichen Ringen an der Smartphonefront zu Hause würde das aber sowieso nichts ändern. Am Ende geht es schlicht darum, dass das Kind nicht ganz im Gerät verschwindet und wenigstens gelegentlich ein bisschen anwesend ist.
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