Tiefpreise im DetailhandelMarketingprofis fürchten um das Vertrauen in die Migros
Haben Kundinnen und Kunden bei Migros zu viel bezahlt? Für die Detailhändlerin ist der neue Tiefpreiskurs heikel.
- Migros plant, 1000 Produkte bis 2025 mit Tiefstpreisen zu versehen.
- Die Strategie soll durch Einsparungen und den Verkauf von Unternehmensbereichen finanziert werden.
- Experten kritisieren, dass die Tiefpreisstrategie keinen umfassenden Markenfokus bietet.
Die Migros will bis Ende 2025 die Preise von 1000 Produkten des täglichen Bedarfs auf Tiefstniveau senken. Dafür will die Detailhändlerin in den nächsten fünf Jahren eine halbe Milliarde Franken aufwenden.
Einerseits soll das Geld aus dem Verkauf von Verlustbetrieben kommen. Andererseits aus Einsparungen. Wie viel dies sein werde, lasse sich aber «unmöglich auf den Franken herunterbrechen, was woher kommt», erklärt eine Migros-Sprecherin. Jede Firma innerhalb des Konzerns habe «in jedem Jahr einen anderen Verlust oder Gewinn gemacht». Die Resultate der einzelnen Unternehmen weist Migros aber nicht aus.
Andererseits will Migros, um die Preise für Konsumentinnen und Konsumenten zu senken, auf einen Teil ihres Gewinns verzichten. Sie nimmt «bewusst einen kleineren Gruppengewinn in Kauf». Stimmt es also, wenn Konzernchef Mario Irminger im Interview mit dem Schweizer Fernsehen sagt, die Migros-Kundschaft habe in den letzten Jahren «wahrscheinlich partiell zu viel gezahlt»?
«Unnötiger Wettbewerb – die Migros ist kein Discounter»
Irmiger habe mit seiner Aussage sicher recht, sagt Jörg Staudacher. Dennoch wundert sich der Detailhandelsexperte und Professor an der Zürcher Hochschule für Wirtschaft: «Warum hat er das überhaupt gesagt?»
Diese Frage stellt sich. Wer bei der Migros einkauft, weiss, dass damit auch gesellschaftliches Engagement, Swissness par excellence und ein breites Sortiment finanziert werden. Diejenigen, denen die Migros bislang zu teuer war und immer noch ist, haben nicht zu viel bezahlt, denn sie wanderten zur Konkurrenz ab.
Das neue Preisprofil, auf das die Migros-Supermärkte nun setzen, stellt Markenexperte Thomas Wildberger dagegen ganz und gar infrage. Denn damit begebe sie sich auf einen riskanten Pfad.
«Es ist ein bisschen dünn, nur hinauszuposaunen, man habe die Preise gesenkt», bemerkt Wildberger, der seine KV-Lehre bei der Migros absolvierte und später als Werber mehrere Imagekampagnen für den Konzern lancierte. Er ist heute Partner bei der Unternehmensberatung Prophet. «Damit begibt man sich in einen unnötigen Wettbewerb mit den Discountern – denn die Migros ist kein Discounter.»
Dass die Migros aufs Kerngeschäft fokussiere, findet Wildberger richtig. «Noch besser wäre jedoch, auf den Kern der Migros zu fokussieren. Der lautet seit der Gründung: gute Produkte zu günstigen Preisen.» Diese müssten nicht zwingend billiger als vorher oder die irgendeines Mitbewerbers sein.
Umso wichtiger erscheint Wildberger, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis stimme: «Dann empfindet der Kunde das Produkt nämlich im wahrsten Wortsinn als preiswert.»
Auch die Kommunikation wird kritisiert
Mit dem Versuch, sich ein Discounter-Image zu geben, gehe Migros ein Wagnis ein. Dies ist auch die Meinung von Detailhandelsexperte Jörg Staudacher. Er beleuchtet dies jedoch eher von der Kommunikationsseite her. Die Medienkonferenz vom Beginn dieser Woche hält er für «verunglückt».
«Ich hab nicht verstanden, wer sich davon angesprochen fühlen soll.» Die Migros würde die Kundschaft ohne Not dazu erziehen, noch mehr auf die Preise zu achten, so Staudacher. «Warum senkt die Migros nicht einfach die Preise, ohne es an die grosse Glocke zu hängen?»
Werber Wildberger bemängelt an der Lancierungsaktion, dass zwar eine Marken-, aber keine Gesamtstrategie präsentiert wurde: «Mit anderen Worten: Ich weiss nicht mehr, wofür die Migros steht. ‹Wir sind billig› kann es ja nicht sein.»
Grundsätzlich bleibt die Frage offen, ob eine neue Tiefpreisstrategie der richtige Weg für die Migros ist. Fast zehn Jahre bevor Aldi und Lidl in die Schweiz kamen, lancierte Migros 1996 erfolgreich die Billiglinie M-Budget, die laut Geschäftsbericht auch 2023 «besonders beliebt» war.
Zu M-Budget lässt Migros-Supermarkt-Chef Peter Diethelm lediglich verlauten, dass sie nicht eingestellt werde. Wie aber geht es weiter mit der noch immer populären Marke? «M-Budget ist doch eine super Marke», sagt Wildberger. «Sie funktioniert und hätte theoretisch noch mehr Potenzial.»
Schwierig wird es für die Migros auch, wie angekündigt verstärkt Eigenprodukte der M-Industrie – unter Marken wie Micarna, Elsa, Bischoffszell, Jowa oder Frey – zu Tiefstpreisen anzubieten. «Wir werden den Anteil an Eigenprodukten in den Migros-Filialen steigern und gezielt in deren Preise und Qualität investieren», so Guido Rast, Verwaltungsratspräsident der Migros Supermarkt AG, in einer Mitteilung.
Kann die Migros-Industrie die Kosten weiter senken?
Auf die Frage, wie dies gelingen soll, antwortet die Migros, dass die Migros-Industrie und die Migros Supermarkt AG «den klaren Anspruch haben, dass wir gemeinsam konkurrenzfähig sind». Viele Sortimente, die von der Migros-Industrie produziert würden, unterlägen dem «Schweizer Grenzschutz», der für alle Händler gelte.
Mit anderen Worten: Lebensmittel der M-Industrie profitieren davon, dass eingeführte Produkte mit Tarifen belastet werden. Bei den übrigen Sortimenten prüfe die Migros «laufend, ob Produktion durch die Migros-Industrie oder ob die Produktion durch einen anderen Hersteller für die Migros vorteilhafter ist».
Detailhandelsexperte Jörg Staudacher glaubt, dass es für die Migros-Industrie schwierig sein werde, in den nächsten zehn Jahren mit dem Tempo von Aldi und Lidl mitzuhalten. «Die Migros-Industrie wurde in den letzten Jahren mehrmals reorganisiert», sagt er dazu, «da ist ausgepresst, was man auspressen kann.» Für Aldi und Lidl – «zwei Weltkonzerne» – «wäre es ein Kinderspiel, ihre Preise in der Schweiz um 30 Prozent zu senken».
Den Slogan «Es gibt definitiv keinen Grund mehr, zum Discounter zu gehen» hält Staudacher für verfehlt, weil damit Denner, ein Goldesel des Konzerns, desavouiert werde. Die Kundschaft werde beim Anblick der gelben Tiefpreis-Hinweise mit der Nase darauf gestossen, dass die Migros auch beim übrigen Sortiment stärker auf den Preis achten könnte.
Fragen zur Farbe Gelb und zum Kundenerlebnis
«Wenn Sie Salat mit einem gelben Tiefpreisetikett sehen, stellen Sie sich automatisch die Frage: ‹Wo ist er wohl am billigsten?›» Zudem sei die Farbe Gelb nicht in die Migros-Markenwelt integriert, sagt Marketingwissenschafter Staudacher: «Warum nicht Orange?»
Die Experten haben stattdessen Vorschläge, die Migros in eine andere Richtung weiterzuentwickeln: Für Staudacher etwa steht fest, dass die Migros, statt Preispflästerlipolitik zu betreiben, sich grundsätzlich neu aufstellen sollte: «Sie müsste sich vom Retailer zum Lebensbessermacher wandeln.» Das funktioniere aber nicht, indem sie weiter hauptsächlich an der Preisspirale drehe. Im Gegenteil sollte sie Mehrwerte bieten, die auf Erlebnis und Beratung – «Convenience», wie es Staudacher formuliert – fokussieren.
«Warum haben weder Migros noch Coop eine App, die mich in den Filialen dorthin führt, wo die für mich besten Lebensmittel stehen?» Staudacher gibt ein Beispiel: Eine Diabetikerin erhält von der Migros-App aufgrund eines Migros-Rezepts per GPS den Weg vorgezeichnet, den sie gehen muss, um in den Regalen die passenden Produkte zu finden.
Digital gesteuerte «Convenience» – im Sinne von Vereinfachung des Alltags – und Gesundheit seien zwei Megatrends, die von Migros und Coop verschlafen würden. «Im Schweizer Detailhandel wird zu sehr auf Rabatte und bekannte Branchenmechanismen gesetzt und viel zu wenig die Veränderungen der Lebensrealität der Kunden antizipiert», sagt Jörg Staudacher.
Thomas Wildberger vermisst nach der Ankündigung der Tiefpreisstrategie etwas anderes: «Emotionale Nähe. Sie wird im Moment völlig ausser Acht gelassen. Die Migros gehört immer noch den Leuten. Es sollte ihr gelingen, dieses Gefühl der Solidarität, des Stolzes und der Herzlichkeit erneut zu wecken.»
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