Angriff in SolingenForscher analysieren Hintergründe von Messergewalt in Deutschland
Der letzte Aufschrei über Messergewalt nach dem Polizistenmord Ende Mai war nicht mal verhallt, dann ersticht ein Unbekannter drei Menschen auf einem Stadtfest. Wie gross ist das Problem?
Über die Hintergründe des brutalen Anschlags auf dem Stadtfest in Solingen weiss man bisher nichts. Bloss das: Gegen 21.40 Uhr am Freitagabend sticht eine unbekannte Person mit einem Messer mutmasslich wahllos auf Festbesucher ein und flüchtet anschliessend. Drei Menschen werden getötet. Acht sind verletzt, einige von ihnen schwer. Die Polizei schickt zur Fahndung bewaffnete Spezialeinheiten nach Solingen, errichtet Strassensperren, aber noch ist der Täter nicht gefasst. Nordrhein-Westfalens Innentminister Herbert Reul warnt noch in der Nacht vor Spekulationen über das Motiv des Angreifers. Aber da brodelt die Gerüchteküche in den sozialen Netzwerken längst.
Dabei ist das bislang einzig Erwiesene, aus dem sich Schlüsse ziehen liesse, dass es sich hier um einen Messerangriff handelt. Ein Angriff, der auf zutiefst tragische Weise zeigt, warum in jüngster Zeit so viel über das Phänomen Messergewalt diskutiert worden ist. Erst vor zwei Wochen hat Innenministerin Nancy Faeser angekündigt, dass sie das Waffenrecht auch mit Blick auf Messer verschärfen will: Klingen länger als sechs Zentimeter möchte sie in der Öffentlichkeit verbieten, den Umgang mit Springmessern gleich ganz. Faeser reagierte damit auf die Tatsache, dass die Zahl der Messerangriffe in Deutschland zuletzt gestiegen ist und die politische Diskussion immer lauter geworden ist. Vor Solingen gab dazu zuletzt der tödliche Messerangriff auf den Polizisten Rouven Laur in Mannheim Anlass.
Fast 40 Messerangriffe pro Tag – oder sogar über 70?
Erst am Montag der vergangenen Woche stellten die Innenministerin und ihr Polizeichef Dieter Romann ein weiteres Puzzlestück aus der Statistik vor: 2023 hat die Bundespolizei 853 Angriffe mit Messern festgestellt. Und das nur in ihrem Zuständigkeitsbereich, also an deutschen Bahnhöfen, Flughäfen und Grenzen.
Die Gesamtzahl der Taten ist noch weitaus grösser. Das Bundeskriminalamt hat im vergangenen Jahr 13’844 Messerangriffe registriert, zwölf Prozent (ungefähr 1500 Fälle) mehr als noch 2022 und ganze 37 Prozent (3700 Fälle) mehr als 2021. Darunter waren 8951 Fälle der gefährlichen oder schweren Körperverletzung und 4893 Raubdelikte. Als «Messerangriff» klassifiziert das BKA Taten, bei denen ein Messer als Tatwaffe direkt eingesetzt oder zumindest damit gedroht wird. Nicht erfasst wird, wenn ein Täter ein Messer «nur» dabeihat.
Das Portal Nius berichtete Mitte Juni allerdings, dass diese Zahlen unvollständig seien. Eine Abfrage in den Bundesländern habe ergeben, dass die Gesamtzahl der Messerangriffe in Deutschland 2023 bei 26’113 lag, also knapp doppelt so hoch wie vom BKA angegeben. Dass die Statistik unvollständig ist, machte die Behörde in ihrer Polizeilichen Kriminalstatistik nicht klar.
Anstieg der Statistik bedeutet nicht zwingend Anstieg bei den Taten
Der Grund liegt, wie das BKA auf den Bericht hin mitteilte, darin, dass diese Zahlen noch nicht besonders lang erfasst werden und es dementsprechend noch keine einheitlichen Kriterien für die Erfassung und Übermittlung gebe. Erst seit 2021 führt das BKA überhaupt eine Statistik über Taten mit der Waffe Messer, zuvor hatten die Innenminister von Bund und Ländern beschlossen, dass es eine gesonderte Auswertung brauche – aufgrund des Eindrucks, dass diese Delikte sich häuften. Erst für das laufende Jahr soll es zum ersten Mal ein bundeseinheitliches – und dann vollständiges – Lagebild zur Messergewalt geben. In der Kriminologie gibt es aber generell Zweifel daran, wie belastbar solche Statistiken sind: Werde viel über ein Phänomen wie etwa Messergewalt diskutiert, könne es sein, dass die Bereitschaft in der Bevölkerung steige, solche Taten auch anzuzeigen. Nur dann fliessen sie schliesslich in die behördliche Buchführung ein.
Wenngleich die Statistik also einige Unsicherheiten beinhaltet, berichten die Ermittler, dass der Anteil an Delikten mit dem Tatmittel Messer an der Gesamtzahl der verübten Taten bei Weitem nicht überwiegt: Laut BKA wurden mit Messern 5,8 Prozent der gefährlichen und schweren Körperverletzungen (2022: 5,6) und 10,9 Prozent der Raubdelikte (2022: 11) verübt.
BKA verzichtet auf Angabe von Nationalität – einige Bundesländer nicht
Nach öffentlichkeitswirksamen Angriffen mit Messern kocht regelmässig auch die Debatte über die Herkunft der Täter hoch, nicht erst, seit AfD-Chefin Alice Weidel im Bundestag 2018 offenbar mit Blick auf Menschen mit Migrationshintergrund von «alimentierten Messermännern» sprach. Das BKA macht in seiner jährlichen Statistik zumindest zu Messerangriffen keine Angaben über Tatverdächtige, weil bei einer solchen Tat auch Personen als Verdächtige erfasst würden, die neben einem anderen mutmasslichen Täter vielleicht «nur» dabei waren, aber selbst kein Messer in der Hand hatten.
Einige Bundesländer aber erfassen die Nationalität der Verdächtigen, dort sind zwischen einem Drittel und knapp der Hälfte der mutmasslichen Täter bei Messerangriffen Ausländer. Deutlich mehr also als der Gesamtanteil nicht deutscher Staatsbürger an der Bevölkerung der Bundesrepublik. Nicht erfasst sind dabei Deutsche mit Migrationshintergrund, mitgezählt werden aber beispielsweise Touristen.
Kriminologen gehen davon aus, dass nicht die Nationalität oder ein Migrationshintergrund das Risiko beeinflussen, dass ein Mensch zum Messer als Tatwaffe greift. Ein Forscherteam um Elena Rausch von der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden kam in einer 2023 veröffentlichten Studie zu 450 rechtskräftig für Messergewalt verurteilten Personen zu dem Schluss, dass es andere Gründe gibt: Risikofaktoren seien etwa eigene Gewalterfahrungen, psychische Beeinträchtigungen oder Drogenkonsum. Faktoren wiederum, die beispielsweise aufgrund von Fluchterfahrung, Armut oder beengten Lebensverhältnissen tatsächlich bei Ausländern und Menschen mit Migrationshintergrund häufiger sind als bei anderen.
Viele Messerangriffe sind Fälle von häuslicher Gewalt
Der prozentuale Anstieg der Messertaten entspricht im Übrigen dem generellen Trend, dass es in Deutschland schlicht mehr Gewaltkriminalität gibt. Insgesamt ist die Zahl der Gewalttaten 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 8,6 Prozent gestiegen. Bei gefährlichen und schweren Körperverletzungen lag die Steigerung bei 6,8 Prozent, bei Raubdelikten sogar bei 17,4 Prozent. Zum Vergleich mit anderen Tatmitteln: Auch bei den Taten mit Schusswaffen gab es 2022 auf 2023 einen Anstieg um knapp sieben Prozent. Messer wurden allerdings insgesamt häufiger eingesetzt. Der BKA-Statistik zufolge wurde im Jahr 2023 in 4419 Fällen mit einer Pistole oder Ähnlichem gedroht und in 4687 Fällen tatsächlich geschossen, insgesamt also knapp 9100 Fälle. Die Erklärung von Ermittlern und Kriminologen: Messer seien schliesslich auch leichter zugänglich als Schusswaffen, weil im Zweifel in jedem Haushalt vorhanden und jedenfalls zum grossen Teil ohne Waffenerlaubnis erhältlich.
Zum Stichwort Haushalt: Der Kriminologe Dirk Baier wies neulich in einem Interview mit dem MDR auf einen Punkt hin, der in der Diskussion über Messergewalt häufig untergeht, die ja in den allermeisten Fällen Taten in aller Öffentlichkeit zum Thema hat: 25 bis 50 Prozent der Gewalttaten, bei denen ein Messer zum Einsatz kommt, seien Fälle von häuslicher Gewalt.
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