Grosse Studie zu Mental HealthSchaden Tiktok und Instagram wirklich? Eine Studie gibt Entwarnung
Forschende haben die wissenschaftlichen Veröffentlichungen seit 2012 in einer Meta-Analyse untersucht. Ihr Fazit: Es gibt keine Belege für einen negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit.
- Eine neue Meta-Analyse entlastet Social-Media-Plattformen.
- Es gebe keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass soziale Medien psychische Schäden verursachen.
- Andere Faktoren wie Leistungsdruck und Vereinsamung werden als relevanter betrachtet.
- Experten betonen die Wichtigkeit der Medienkompetenzförderung statt restriktiver Massnahmen.
Elon Musk, Mark Zuckerberg und all die anderen Chefs von Social-Media-Plattformen können sich freuen: Die Wissenschaft entlastet sie vom schweren Vorwurf, dass sie verantwortlich für die Zunahme psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen seien. In der öffentlichen Wahrnehmung ist dies immer mehr zur vermeintlichen Gewissheit geworden.
Doch nun kommt eine Analyse des aktuellen Forschungsstands zum Schluss: Für den behaupteten Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und psychischen Problemen bei Jugendlichen gibt es keine wissenschaftlichen Belege. Die Studie wurde soeben im Fachblatt «Professional Psychology: Research and Practice» veröffentlicht. Es handelt sich um eine sogenannte Meta-Analyse, welche die wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus den Jahren 2012 bis 2022 auswertete und insgesamt 46 Studien mit guter Qualität vertieft analysierte.
Die Autoren um den US-Psychologen Christopher J. Ferguson von der Stetson University in Florida monieren, die Befürchtungen von politischen Entscheidungsträgern, Eltern und Gesundheitsfachleuten seien nicht wissenschaftlich fundiert. Und sie warnen davor, die sozialen Medien zum Sündenbock zu machen und dafür andere Erklärungen für psychische Probleme bei Jugendlichen zu vernachlässigen. «Es ist durchaus berechtigt, dass Eltern die Nutzung sozialer Medien durch ihre Kinder hinterfragen», schreiben die Forschenden. Doch entstehe durch die Rhetorik von politischen Akteuren und einigen Berufsverbänden der falsche Eindruck, dass die wissenschaftlichen Belege für Schäden eindeutig seien.
Soziale Medien können bei psychischen Problemen helfen
Die Sorge über die Nutzung von Plattformen wie Instagram, Tiktok oder Snapchat ist stetig gewachsen. Ein früher Mahner ist Manfred Spitzer. Der bekannte Psychiater vom Universitätsklinikum Ulm hat vor mehr als einem Jahrzehnt damit begonnen, Bücher zu Gefahren der digitalen Welt für die psychische Gesundheit zu schreiben. Vor einem halben Jahr befeuerte der US-amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt mit seinem Buch «Generation Angst» die Diskussion. Die digitale Entwicklung mit Smartphone und sozialen Medien sei das bis jetzt grösste Menschheitsexperiment, mit der Folge einer «Neuverdrahtung der Kindheit», schreibt er.
Auch in der Schweiz nimmt die Kritik zu. In mehreren Kantonen sind Vorstösse hängig, die das Smartphone an der Volksschule verbieten wollen. Auch bei Fachleuten an der Front, die direkt mit Jugendlichen zu tun haben, gelten die sozialen Medien als Beschleuniger von psychischen Problemen.
Das weiss auch Daniel Süss, Professor für Medienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und der Universität Zürich. «Alltagsbeobachtungen zur Mediennutzung werden oft vorschnell verallgemeinert und einseitig interpretiert», sagt der Co-Leiter der James-Studie, die seit 2010 alle zwei Jahre die Mediennutzung von Schweizer Jugendlichen untersucht.
Gerade wegen solcher vermeintlicher Gewissheiten sei die nun veröffentlichte Meta-Analyse wichtig, sagt der Medienpsychologe. Denn die Studie bilde den Stand der Wissenschaft sehr gut ab und sei qualitativ sehr hochstehend. «Alle, die jetzt nach Regulierungen rufen und den Medienkonsum von Jugendlichen radikal einschränken wollen, sollten die Meta-Analyse zur Kenntnis nehmen.»
Die nüchterne Meta-Analyse ist aus Sicht von Süss auch wertvoll, weil Studien in diesem Bereich teilweise methodische Probleme haben. Sie erheben oft nur Nutzungszeiten und nicht die Inhalte und die Art der Nutzung. Nicht selten liegt der Fokus auch ausschliesslich auf negativen Aspekten. Dabei können soziale Medien Betroffenen auch helfen, beispielsweise mit ihren psychischen Problemen umzugehen und sich trotz Rückzug mit anderen auszutauschen.
Andere Faktoren seien deutlich wichtiger
Der Schweizer Psychologe betont, dass die neue Meta-Analyse kein Freibrief für die Anbieter sozialer Medien sei: «Es gibt durchaus Inhalte und Nutzungsformen, die bei Jugendlichen Probleme verschärfen können.» Grundsätzlich ist Süss aber mit den Psychologen um Ferguson einig: «Die Gründe für die Zunahme von psychischen Problemen bei Jugendlichen sind viel komplexer als vielerorts behauptet.»
Deutliche wichtiger als die Dauer der Smartphone-Nutzung sind demnach andere Faktoren wie Leistungsdruck, Vereinsamung, Zukunftsängste und das Fehlen von Freiräumen, in denen Jugendliche Dinge ausprobieren und sich beweisen können. Nicht zuletzt führt auch die Enttabuisierung von psychischen Problemen zu einer Zunahme der beobachteten Fälle. «Man spricht viel offener darüber und sucht schneller Hilfe als noch vor wenigen Jahren – was sehr positiv ist», sagt Süss.
Anstelle von Verboten und Restriktionen bei der Smartphone- und Social-Media-Nutzung plädiert der Medienpsychologe für ein genaueres Hinsehen, den Dialog mit den Jugendlichen und die Förderung der Medienkompetenz – in Schule und Familie. «Heranwachsende können einen gesunden und produktiven Umgang mit der digitalen Welt lernen.»
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