Analyse zum ImpfneidMein pandemisches Psychokrämpfli
Neben der grossen Corona-Krise gibt es die kleineren: zum Beispiel, dass andere sich schon sicher fühlen dürfen – wann bin ich dran mit der Impfung?
«Glaubst du etwa den amerikanischen Zahlen?», fragte mich jüngst eine Freundin, als ich zugab, dass ich zum ersten Mal seit langem ein bisschen neidisch auf die Amerikaner bin.
Doch, ich glaube durchaus, dass in den USA bereits 110 Millionen Menschen zumindest eine Erstimpfung erhalten haben, also 41 Prozent aller Amerikaner über 16. Und ab dem 19. April sind sowieso alle erwachsenen US-Bürger zur Covid-Impfung zugelassen. (Lesen Sie hier, wo die Schweiz im grossen Impfrennen steht.)
Und klar freut man sich: Toll, was Wissenschaft und Verwaltung turbomässig stemmen können, wenn es nottut! Wunderbar, dass so viele Menschenleben gerettet und alte Freiheiten wieder gewonnen wurden! Jeder Geimpfte trägt zur weltweiten Herdenimmunität bei.
Aber haben Sie es auch verspürt, dieses kurze neidische Zwicken, als der junge und kerngesunde US-Bekannte vom anstehenden Impftermin für sich und seine Freundin erzählte? Dieses – psychologisch akribisch erforschte – Warteschlangen-Wutanfällchen, das sich aus dem unschönen Gefühl des Zukurzgekommenseins speist?
Es piekst mich halt dieses eklige «Will auch!»-Gefühl.
«Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt», dichtet Schiller über die Freude. Und ich gönne es beispielsweise jeder deutschen Lehrerin, jedem deutschen Lehrer, die dieser Tage geimpft wurden (noch keineswegs alle), dass sie nun wieder ohne Sorge in die Schule gehen können.
Trotzdem: Es piekst mich halt dieses eklige «Will auch!»-Gefühl. Die englischsprachigen Medien, immer schnell mit griffigen Formulierungen zur Hand, sprechen hier von «Jab Jealousy» – dem Spritzen- beziehungsweise Impfneid. Und Neid, so sagte der Dichter John Dryden im 17. Jahrhundert, «Neid ist die Gelbsucht der Seele». Definitiv ungesund. Anders gesagt: ein blödes pandemisches Psychokrämpfli.
Aber mein Partner, über 55 Jahre alt, hält jeden Tag ungeimpft Präsenzunterricht in wechselnden Gymi-Klassen. Ich selbst wage mich bloss mit FFP2-Maske in den Laden; wenn es denn sein muss. Freizeitspass? Einsames Jogging im Wald. Und wer weiss, welche Käfer die vier Kids heimbringen. Die dritte Welle mit den hochansteckenden Mutationen rollt.
Die Ferienplanung gestaltet sich als Fata Morgana, ersehnte Oasen lösen sich immerzu in Luft auf. Das alles ist Jammern auf hohem Niveau, wird allerdings von der Angst grundiert, dass es Familie, Freunde oder einen selbst auf den letzten Corona-Metern doch noch erwischt.
Derweil tanzen sie in Tel Aviv wieder auf den Tischen; 56 Prozent der Bevölkerung Israels haben den vollen Impfschutz. Von Bibi Netanyahu (Israel) über Boris Johnson (Grossbritannien) bis Joe Biden (USA) lief das mit der Impfstrategie im Ausland deutlich besser als im Pharma-Hotspot Schweiz.
O.k., trotz Impfung ist die Welt nirgends wie früher. Und ungeklärte Fragen nagen wie: Wie lange hält die Impfwirkung an? Wie gut schützt der «Jab» gegen Mutanten?
Kennen sie keine Fomo, «fear of missing out»: die Furcht, etwas zu verpassen?
Aber dass die Impfung wirkt, sogar die problematische von AstraZeneca, steht ausser Frage. Dass eine befreundete Airhostess sich über ihre Airline ärgert, die ihr die Impfung aufdrücken will, dass eine aus medizinischen Gründen priorisierte Kollegin freiwillig darauf verzichtet, ganz abgesehen von manchen impfunwilligen Pflegerinnen und Pflegern: Das löst bei mir Kopfschütteln aus. Ich würde sofort mit ihnen tauschen.
Kennen sie keine Fomo, «fear of missing out»: die Furcht, etwas zu verpassen? Oder schlicht die Angst vor einer Covid-19-Erkrankung mit ungünstigem Verlauf? Immerhin: In einem Jahr wird man hoffentlich gar nicht mehr wissen, was das Wort «jab jealousy» mal bedeutet hat.
Apropos – der tägliche Podcast
Den Podcast können sie kostenlos hören und abonnieren auf Spotify, Apple Podcasts oder Google Podcasts. Falls Sie eine andere Podcast-App nutzen, suchen Sie einfach nach «Apropos».
Fehler gefunden?Jetzt melden.