Elternfrage zu körperlicher NäheMein Fünfjähriger hat Mühe, Distanz zu wahren
Der Sohn einer Leserin umarmt spontan Nachbarinnen, Freunde und Bekannte. Überschreitet er damit Grenzen? Unsere Erziehungsexpertin Daniela Melone ordnet ein.
Mir graut ehrlich gesagt schon wieder, wenn ich an die kommenden Festtage denke. Der Grund: Mein Fünfjähriger hat Mühe, Distanz zu wahren. Er ist unglaublich anhänglich – was ja grundsätzlich schön ist –, aber bei «Fremden», beziehungsweise bei Freunden, Nachbarinnen und Bekannten sorgt sein Verhalten immer wieder für Irritation. Ich habe mit ihm auch schon darüber geredet, allerdings habe ich das Gefühl, dass er das «Problem» nicht wirklich als solches erkennt, beziehungsweise nicht abschätzen kann, wann eine Umarmung angemessen ist oder nicht. Wie soll ich vorgehen? Elternfrage von Maria
Liebe Maria, herzlichen Dank für Ihre Frage. Wir Menschen haben ein natürliches Empfinden dafür, wann und mit welchem Abstand uns die Nähe zu jemand anderem angenehm ist und wann nicht mehr. Wir alle kennen das.
Der Ethnologe Edward Hall hat dieses Empfinden untersucht und dazu ein Zonenmodell entwickelt: Die innerste Zone bezeichnet die «intime Zone» und umfasst alle Kontakte von Hautkontakt bis ca. 45 bis 60 cm Abstand. Daran schliesst die sogenannte «persönliche Zone» an und beschreibt den üblichen Abstand in Gesprächen mit Freundinnen und Kollegen (bis 120 cm). Einer Distanz, bei der das Gegenüber auch berührt werden kann. Die «gesellschaftliche Zone» beschreibt den Bereich zwischen 120 bis 220 cm. Wir können das zum Beispiel in Gesprächen mit Personen bei der Arbeit beobachten. Ganz aussen befindet sich die «öffentliche Zone».
Diese Distanzzonen sind nicht für alle Menschen auf der Welt gleich: Je nach Kulturzugehörigkeit sind sie anders bemessen. Innerhalb der gleichen Kulturzone ist das Empfinden der Menschen jedoch ähnlich. Ihr Sohn scheint die Grenze der intimen Zone, wie Sie es beschreiben, zu überschreiten. Das ist für Familie und Bekannte verständlicherweise irritierend. Distanzlosigkeit bei Kindern bedeutet für mich jedoch weit mehr: Ein (Alarm-)Signal, dem Beachtung geschenkt werden muss. Lassen Sie mich das anhand der sogenannten Bindungstheorie erklären.
Bindung aufbauen – ein Grundbedürfnis
Beziehungen aufzubauen und Bindungen einzugehen, ist ein menschliches Grundbedürfnis und für Säuglinge und Kinder existenziell für eine gesunde Entwicklung. Es bedeutet eben auch Schutz vor Gefahr. Bindung wird als eine enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehung verstanden, die eine Person zu einer anderen spezifischen Person aufbaut, die sie auch über Raum und Zeit hinweg miteinander verbindet. Dabei ist die Bindung zu den primären Bezugspersonen – in der Regel sind das die Eltern – besonders wichtig.
Zu Beginn des zweiten Lebensjahrs haben die meisten Kinder eine relativ starke und sichere Bindung zu mindestens einer Person entwickelt. Das dadurch entstandene Gefühl von Sicherheit ist die Grundbedingung für ein Kind, sich der Welt zuzuwenden und diese zu erkunden. Zuverlässige und feinfühlige Eltern beziehungsweise Bezugspersonen bilden einen sicheren Hafen. Erfährt ein Kind diese Qualität von Liebe und Geborgenheit nicht – und dafür kann es verschiedene Ursachen geben –, kann sich das negativ auf seine Entwicklung auswirken und in Form einer «desorganisierten Bindung» möglicherweise zu einer sogenannten Bindungsstörung des Kindes führen.
Das Kind sucht sich sozusagen das, was ihm fehlt.
Enthemmung kann ein Leitsymptom einer Bindungsstörung sein: Kinder zeigen eine enthemmte, distanzlose Kontaktfreudigkeit, sogar gegenüber ihnen vollkommen fremden Personen. Der bekannte Erziehungsberater Jan Uwe Rogge erklärt, dass «distanzlose Kinder» dazu neigen, Grenzen zu überschreiten, weil für sie alle Menschen gleich nah beziehungsweise fern sind. Das Kind sucht sich sozusagen das, was ihm fehlt.
Ob die von Ihnen beschriebene Situation eine Bindungsstörung anzeigt oder Ausdruck von etwas anderem ist, kann hier in der Elternfrage nicht geklärt werden. Ich rate Ihnen daher zum Gespräch mit einer psychologischen Fachperson. Von Ihrem Kinderarzt, Ihrer Kinderärztin bekommen Sie bestimmt entsprechende Empfehlungen.
Nähe und Zuneigung anbieten
Das weitere Vorgehen hängt natürlich von der Analyse und konkreten Einschätzung der Situation ab. Falls es darum gehen sollte die Beziehung zu Ihrem Sohn zu vertiefen, möchte ich Ihnen nachfolgende Anregungen mit auf den Weg geben:
Bauen Sie kleine Rituale ein
Bieten Sie und allenfalls Ihr Partner oder Ihre Partnerin Nähe und Zuneigung an, wenn Ihr Sohn das Bedürfnis zeigt. (Falls Sie nicht wissen, wie Ihr Sohn dies mitteilt, beobachten Sie ihn.) Starten Sie zum Beispiel mit dem Einführen von kleinen Ritualen, in denen Ihr Sohn bewusst Körperkontakt und Nähe von Ihnen erfährt.
Ich denke hier an ein «Zu-Bett-geh-Ritual», kombiniert mit einem Eincremen von Händen und Füssen und dem Vorsingen eines Liedes. Körperkontakt und der Einbezug verschiedener Sinne hat sich als effektiv erwiesen. Womöglich haben Sie schon ähnliche Abläufe, die Sie noch bewusster in ihre gemeinsame Bindungsgestaltung einbauen können. Seien sie besonders liebevoll und einfühlsam und zeigen Sie Ihrem Sohn, dass Sie sein sicherer Hafen sind.
Schrittweise und altersgemäss dem Thema nähern
Erst wenn die Grundbedürfnisse des Kindes gedeckt sind, kann es sich auf weitere Schritte einlassen, zum Beispiel auf ein Gespräch über die Situation. Etwa können Sie ihn danach fragen, wie er sich in solchen Momenten fühlt. Sie können auch anhand eines Bilderbuchs (z.B. «Umarmst du mich mal?»), welches das Thema Nähe-Distanz altersgerecht aufnimmt, das Gespräch aufbauen. Indem Sie mit ihrem Sohn Regeln besprechen (z.B. im Stil von «bevor ich jemanden umarme, frage ich die Person immer zuerst, ob er/sie dies auch möchte») bieten Sie ihm zusätzlich Orientierung.
Das alles braucht seine Zeit und wird hinsichtlich der kommenden Feiertage nicht wirklich zu lösen sein. Wichtig erscheint mir allerdings, dass Sie das Verhalten Ihres Sohnes nicht zu seinem Problem machen, denn er versucht damit vielleicht nur sein Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit zu decken.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute, gesunde und frohe Festtage!
Daniela
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