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Papablog: Der Fall Winterhoff
Warum Kinder keine Tyrannen sind

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Tyrannen? Unsere Kinder sind die Helden von morgen!
Arme Eltern …: Immer wieder machen Thesen die Runde, dass Kinder ihre Eltern tyrannisieren würden.
Nach dem Motto: Bist du zu nett, frisst dich der Nachwuchs.
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Ein Beben läuft durch Erziehungsratgeberdeutschland. Ich bin nicht sicher, ob es die Schweiz schon erreicht hat, aber hier fällt gerade so einiges zusammen: Im Moment ist es das «System Winterhoff» und das wurde auch höchste Zeit. Michael Winterhoff ist ein Kinder- und Jugendpsychiater, der in der Vergangenheit viel Aufmerksamkeit mit Büchern rund um seine These erregt hat, dass wir unsere Kinder zu Tyrannen erziehen.

Vereinfacht gesagt, geht Winterhoff davon aus, dass viele Eltern aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen zu nett, zu partnerschaftlich und zu bindungsorientiert mit ihren Kindern umgehen. Dadurch entstehe ein Entwicklungsstillstand oder gar eine Rückentwicklung, durch die die Kinder in einer narzisstischen, ich-fixierten Phase gehalten würden, in der sie ihre Mitmenschen, allen voran natürlich die eigenen Eltern und Geschwister, in Grund und Boden tyrannisieren.

Damit traf der Mann anscheinend einen Nerv. Er wurde vielfach in Talkshows und auf Podien eingeladen, um seine Thesen zu verbreiten, traf sich mit der Politik und lächelte in jede Kamera. Anfang August erschien jedoch eine Reportage über Winterhoff, die schonungslos offenlegt, wie genau er mit Kindern und Jugendlichen verfährt, denen er «die emotionale Reife eines Dreijährigen» attestiert:

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Offenbar medikamentierte er sie mit dem sedierenden Neuroleptikum Pipamperon bis in eine völlig umnachtete Widerstandslosigkeit. «Jeden Tag dreimal», wie ein Mädchen in der Dokumentation sagt. Das eigentliche Notfallmedikament mit zahlreichen, teilweise dramatischen Nebenwirkungen wurde schlicht und ergreifend benutzt, um Patientinnen und Patienten ruhig zu stellen. Winterhoff, der in der Öffentlichkeit dem Einsatz von Psychopharmaka stets kritisch gegenüberstand, ballerte in seiner Praxis Kinder und Jugendliche bis zur Besinnungslosigkeit voll, damit sie anschliessend brav funktionierten und alles taten, was man von ihnen verlangt. Statt korrekter Diagnosen und tatsächlicher Psychotherapie gab es für viele Betroffene nur die immer gleichen inhaltsleeren Verhaltenszuschreibungen und die volle Dröhnung.

Wir haben es mit einer Generation zu tun, die freitags auf die Strasse geht, um uns allen den Hals zu retten.

Wie konnte das passieren? Warum wurde diesem Mann so viel Raum für seine Thesen gegeben und so bereitwillig Gehör geschenkt? Am mangelnden fachlichen Widerstand lag es jedenfalls nicht. Immer wieder warfen ihm Kolleginnen und Kollegen die Unwissenschaftlichkeit seiner Thesen vor. Bindungs- und Erziehungsexpertinnen wie Susanne Mierau, Nora Imlau und Inke Hummel weisen schon seit Jahren darauf hin, wie schädlich der Ansatz ist, Kindern unter acht Jahren eine Persönlichkeit abzusprechen, sie wegen Aggressionen zu gefährlichen Mängelexemplaren zu deklarieren und sie als Tyrannen zu antagonisieren. Trotzdem hörten zu viele zu und nickten: «Ja genau. Kinder von heute wissen sich nicht mehr zu benehmen, rasten ständig aus und sind nicht einmal in der Lage, die einfachsten Aufgaben zu erledigen.» Der Jugendpsychiater Kai von Klitzing vertritt die bemerkenswerte These, dass wir solche Überzeugungen aus einem Schuldgefühl heraus hegen.

Kinder schulden uns keinen Gehorsam

Tatsächlich kümmern wir uns nämlich längst nicht genug um unsere Kinder. Und es wächst auch jenseits von «Zucht und Ordnung» keine «Generation von Narzissten» heran, wie die Jugendpsychologin Martina Leibovici-Mühlberger ebenfalls über «Tyrannenkinder» schreibt.

Stattdessen haben wir es mit einer Generation zu tun, die freitags auf die Strasse geht, um uns allen den Hals zu retten. Und als Dank dafür scheissen wir in der Coronapandemie auf sie. Wir schützen sie nicht ausreichend und muten ihnen zugleich zu, Verantwortung für vulnerable ältere Generationen zu übernehmen. Wir verfeuern ihre Lebensgrundlage und sagen ihnen, dass sie sich gefälligst nicht so anstellen sollen. Kinder schulden uns keinen Gehorsam. Wir schulden ihnen die Zukunft.

Wer sind hier die narzisstischen Egoisten? Was meinen Sie, liebe Leserinnen und Leser? Teilen Sie ihre Meinung in der Kommentarspalte.