Gastkommentar von Albert WettsteinMehr Pflegeheime oder bessere ambulante Altersbetreuung?
Fast 1000 zusätzliche Pflegeheime in 20 Jahren: So stark wächst der Bedarf in der Schweiz. Um diese Milliardenkosten zu vermeiden, sollte ein neues ambulantes Betreuungssystem aufgebaut werden.
Eva Meier ist seit 55 Jahren kinderlos verheiratet mit Max, besorgt den Haushalt und betreut ihn. Er ist vergesslich und wird unruhig, wenn er nicht täglich einen grösseren Spaziergang macht. Allein würde er den Heimweg nicht mehr finden. Trotz starken Gelenkbeschwerden rafft Eva sich täglich dazu auf. Beim Baden hilft einmal pro Woche die Spitex. Als Eva eines Abends erschöpft eine Pfanne von einem Gestell herunterholen will, stürzt sie und bricht sich die Hüfte. Max kommt ins Pflegeheim, sie in ein Spital. Eva erholt sich aber nicht mehr ganz und muss auch ins Pflegeheim.
Solche und ähnliche Geschichten geschehen täglich und werden in Zukunft noch viel häufiger geschehen, weil die zahlreichen Babyboomer alt werden. Deshalb hat der Bund zusammen mit den Kantonen eine Studie gemacht, um den Bedarf an Heimplätzen in der Schweiz bis 2040 zu berechnen. Das Ergebnis: Wenn sich nichts ändert, würden bis dann 921 neue Pflegeheime nötig sein, und jedes Jahr wären Kosten von vielen Milliarden die Folge.
Besser ist, stattdessen nur noch schwer Pflegebedürftige in Heimen zu betreuen. Dazu muss jedoch die Spitex ausgebaut und ein nationales ambulantes Betreuungssystem aufgebaut werden. Dieses muss für wenig Bemittelte subventioniert werden. Das heisst, neu müssen auch Betreuungskosten von den Ergänzungsleistungen zur AHV finanziert werden können.
Rechtzeitig erhältliche, gute soziale Betreuung kann Pflegebedürftigkeit lange hinausschieben.
Max Meier könnte dann von bezahlten Spazierbegleitern betreut und Eva bei den schwereren Haushaltarbeiten entlastet werden. So könnten Meiers noch lange gut betreut in ihrer geliebten Wohnung leben.
Die Paul-Schiller-Stiftung hat ein Modell für gute Betreuung entwickelt, das schweizweit mit etwa 2 Milliarden Franken pro Jahr zu finanzieren wäre. Das Geld, das nicht benötigt wird für mehr Pflegeheime, würde dazu ausreichen. Rechtzeitig erhältliche, gute soziale Betreuung kann Pflegebedürftigkeit lange hinausschieben, und damit braucht es auch nicht mehr Pflegepersonal.
Ein solches Netz guter Betreuung muss dringend geplant und aufgebaut werden. Ein Ansatz dazu ist zum Beispiel in der Stadt Zürich geplant: ein subsidiär subventioniertes soziales Betreuungssystem. Die Stadt rechnet sogar damit, deswegen bis 2035 rund 600 Pflegeheimbetten aufheben zu können. Entsprechende Anträge liegen zurzeit beim Gemeinderat.
Das sollte schweizweit Schule machen. In den eidgenössischen Räten wurde eine Motion dazu eingereicht. Es gibt schon ein juristisches Gutachten für eine Erweiterung des Ergänzungsleistungsgesetzes. Nichts tun führt zu einer enormen und teuren Zunahme von Pflegeheimen, was niemand wünscht. Wir wollen alle einen Pflegenotstand wie in den 70er-Jahren in Zürich verhindern und alten Menschen ermöglichen, ihren Lebensabend zu Hause zu verbringen.
* Albert Wettstein ist Zürcher Alt-Stadtarzt.
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