Ukraine-Debatte im NationalratKeller-Sutter erwartet bis zu 50'000 Flüchtlinge
Nach dem Ständerat debattierte heute die grosse Kammer über den Krieg in der Ukraine und die Auswirkungen auf die Schweiz. Wir berichteten live.
Zusammenfassung der Debatte
Drei Stunden lang debattierten die Nationalrätinnen und -räte über den Ukraine-Krieg – und sprachen dabei die ganze Themenpalette an: Energieversorgung, Flüchtlinge, Neutralität, Nahrungsmittel, Armee und Sicherheit. Vor allem SVP und FDP legten den Fokus auf die Militärthematik. Vertreterinnen und Vertreter beider Fraktionen betonten die Notwendigkeit eines höheren Armeebudgets sowie eines ausgebauten Truppenbestands. Im Ernstfall sei «kein Verlass auf Verbündete und andere Staaten», sagte David Zuberbühler (SVP). FDP-Fraktionschef Damien Cottier brachte es auf die folgende Formel: «Wer Frieden will, muss bereit sein für den Krieg.»
Kritik übten die Bürgerlichen insbesondere an den Kampfjet-Gegnern. Deren Initiative gegen die Beschaffung von F-35-Jets missachte den Volkswillen, sagte Ida Glanzmann (Mitte). Sie spielt damit auf die nicht lange zurückliegende Grundsatzabstimmung über die Erneuerung der Luftwaffe an.
Die Linke konterte die Kritik. Kampfflieger würden im Ukraine-Krieg kaum eine Rolle spielen, sagte Pierre-Alain Fridez (SP). Und Ada Marra kritisierte, Teile der Bürgerliche würden «alte Kriegsschemata» aufwärmen.
Die Sicherheitspolitik sorgte für die stärksten Kontroversen. Solche gab es indes auch zur Energieversorgung. Die Grünen stellten die Abhängigkeit der Schweiz von russischem Gas ins Zentrum ihrer Voten. Fraktionschefin Aline Trede plädierte für einen ökologischen Ersatz aller heute betriebenen 190'000 Gasheizungen. «Das ist innert drei bis fünf Jahren machbar.»
Die SVP wiederum zog in Zweifel, dass die ökologischen Ziele von Energieministerin Simonetta Sommaruga mit der angestrebten Versorgungssicherheit in Einklang zu bringen seien. Sommaruga sieht das anders – und sie glaubt das Volk auf ihrer Seite. Sie verwies unter anderem auf zahlreiche neu installierte Solarpanels und betonte: «Die Bevölkerung will vorwärtsmachen.»
Auch die Schweizer Neutralität kam zur Sprache. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi forderte den Bundesrat auf, neue EU-Sanktionen gegen Russland nicht «blind» zu übernehmen. Bundespräsident Ignazio Cassis verwies seinerseits darauf, dass die Schweiz noch diesen Mittwoch die neuesten Sanktionspakete der EU umsetzen wird.
Darüber hinaus gab es emotionale Voten zur Unterstützung der Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem Freiheitskampf. «Im Namen meiner Fraktion spreche ich ihnen unsere Bewunderung aus», sagte etwa der Grüne Nicolas Walder.
Beschlüsse gab es in der Debatte nicht. Formal ging es um die Beantwortung von Fragen aus dem Parlament durch den Bundesrat. Die Landesregierung unterstrich den Stellenwert des Themas, indem sie vier Mitglieder in den Nationalratssaal schickte. (fre/sda)
Die Debatte ist zu Ende
Nach über drei Stunden ist die dringliche Nationalratsdebatte zur Ukraine-Krise beendet.
Es folgt hier eine Zusammenfassung.
«Fragen Sie Herrn Putin!»
Nun spricht Justizministerin Keller-Sutter. Zu SVP-Nationalrat Thomas Matter sagt sie: «Sie fragen mich, wie lange die Flüchtlinge aus der Ukraine hier bleiben werden. Ich bin versucht zu antworten: Fragen Sie Herrn Putin! Er, Herr Putin, hat die Möglichkeit, diesen Krieg jederzeit zu beenden.»
Werden F-35-Offerten verlängert?
Jetzt antwortet Bundesrätin Amherd auf Fragen. Zu einer Frage von SVP-Nationalrat Mauro Tuena nach der F-35-Beschaffung sagt sie, dass die Initiative der Kampfjet-Gegner verzögernd wirke. Die Offerten des Herstellers würden in einem Jahr ablaufen. Die Rüstungsbehörde Armasuisse evaluiere zurzeit, ob die Offerten verlängert werden könnten.
Keine Getreidekrise in der Schweiz
Sowohl Russland als auch die Ukraine exportieren in normalen Zeiten viel Getreide. Trotz des Kriegs erwartet Cassis in der Schweiz aber keine grosse Preissteigerung beim Getreide. 90 Prozent des hier verzehrten Getreides stammten aus inländischer Produktion.
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Unterstützt die Schweiz Kernwaffenverbot?
Bundespräsident Cassis äussert sich zu einer Frage der SP, ob nun bald der Vertrag für ein Kernwaffenverbot unterzeichnet werde. Der Bundesrat dürfe sich nicht einfach vom schönen Titel blenden lassen, so Cassis. Man müsse sich gut überlegen, ob der Vertrag effektiv zweckdienlich sei. Die Erkenntnisse aus dem Ukraine-Krieg würden in die Beurteilung des Bundesrats einfliessen.
SVP-Nationalrat kritisiert Prozedere
Jetzt dürfen den Mitgliedern des Bundesrats Fragen gestellt werden. Zahlreiche Parlamentarier stehen bereits Schlange, vor allem aus der SVP.
Auf Beschluss der Nationalratspräsidentin werden die Fragen gesammelt und von den Bundesrätinnen gebündelt beantwortet. SVP-Nationalrat Christian Imark kritisiert dieses Vorgehen, als er seine Frage stellt. «Am Ende werden die Befragten fünf Minuten referieren und keine Frage wirklich beantworten.»
Sommaruga sieht das Volk auf ihrer Seite
Mit aller Kraft und mehr Tempo erneuerbare Energien ausbauen – das ist für Sommaruga zentral. Ausserdem gelte es, die «Energieverschwendung» zu stoppen und effizientere Techniken zu fördern. Der Bundesrat werde hierzu noch in diesem Jahr eine Verordnung vorlegen.
Sommaruga verweist auf zahlreiche im letzten Jahr neu installierte Solarpanels. «Die Bevölkerung will vorwärtsmachen.»
Allerdings werden auch die Umweltverbände von der Energieministerin mit einem Seitenhieb bedacht. Kraftwerke müssten schneller ausgebaut werden können. «20 Jahre warten, bis wir eine Staumauer erhöhen – das können wir uns nicht mehr leisten.»
Energieministerin im Interview
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Sommaruga kritisiert Uran-Importe
Als letzte Bundesrätin spricht nun Energieministerin Simonetta Sommaruga (SP). Man habe sich in den letzten Jahren bei der Energie europaweit zu stark auf Importe verlassen. Explizit nennt Sommaruga auch die Importe von Uran – womit sie jenen Kräften entgegen tritt, die sich für neue Atomkraftwerke als Beitrag zu einer autonomen Energieversorgung aussprechen.
Situation der Flüchtlinge verbessern
Keller-Sutter kündigt an, dass sie sich heute Mittag mit den Sozialpartnern treffen wird, um über Beschäftigungsmöglichkeiten für die ukrainischen Flüchtlingen zu sprechen.
Ab morgen werde es für die Neuankömmlinge zudem möglich sein, online Termine mit den Asylbehörden zu vereinbaren. Dies werde zur Entlastung der derzeit enorm geforderten Strukturen beitragen.
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Bis zu 50'000 Flüchtlinge in der Schweiz
Nun hat Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) das Wort. Sie vermutet, dass bis Juni 35'000 bis 50'000 Schutzzsuchende aus der Ukraine in die Schweiz kommen könnten.
Zum Vergleich: Über das ganze Jahr 2021 hinweg wurden in der Schweiz knapp 15'000 Asylgesuche gestellt.
Lesen Sie dazu auch: So will die Schweiz Zehntausende Ukraine-Flüchtlinge aufnehmen
Amherd: Mehr Geld würde helfen
Der Ukraine-Krieg habe dazu geführt, dass viele europäische Länder ihre Verteidigungsbudgets erhöhten, sagt Amherd. Sie verweist darauf, dass die Schweiz 1990 einen deutlich höheren Anteil ihres Bruttoinlandprodukts in die Armee investiert habe. Die Armee könnte wichtige Beschaffungsprojekte beschleunigen, falls sie mehr Geld erhielte.
Zum Armeebestand, den die Bürgerlichen erhöhen wollen, äussert sie sich weniger eindeutig. Es gelte derzeit vor allem, den aktuellen Bestand von 100'000 Armeeangehörigen zu sichern.
Verteidigungsministerin im Interview
Lesen Sie zur Debatte auch unser Interview mit Viola Amherd: Brauchen wir jetzt eine bessere Verteidigung, um uns vor Russland zu schützen?
Amherd lobt die Armee
Jetzt spricht Verteidigungsministerin Viola Amherd (Mitte). Der Bundesrat habe mit einer «militärischen Eskalation an der Nato-Ostgrenze» immer gerechnet, betont sie. «Dass bewaffnete Konflikte aus Europa dauerhaft verschwunden wären, daran haben wir nie geglaubt.»
Die Armee sei «auf Kurs und richtig aufgestellt», hebt Amherd hervor. Die Beschaffung von 36 Kampfjets des Typs F35 sei aber «dringend» und «unabdingbar für den Schutz der Bevölkerung vor Angriffen aus der Luft». Der Ukraine-Krieg habe das noch einmal deutlich gemacht.
Schneller und brutaler als erwartet
Der Bundesrat habe eine Eskalation des Ukraine-Konflikts für möglich gehalten, sagt Cassis. Er gesteht aber ein, dass die Eskalation «schneller und brutaler als erwartet» eingetreten sei.
Cassis hebt Schweizer Engagement hervor
Bundespräsident Ignazio Cassis hebt hervor, dass sich die Schweiz auf zahlreichen Ebenen gegen den Ukraine-Krieg engagiere. Der Bundesrat habe schnell und umfassend Hilfsmassnahmen aufgegleist (Lesen Sie dazu auch: Das bedeutet Putins Invasion für die Zukunft der Schweiz).
Sorge bereiten Cassis die russischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung in der Ukraine, aber auch die sich verschlechternde Menschenrechts-Lage in Russland selber.
Arslan widerspricht Aeschi
Internationale Solidarität und Abrüstung, das sei die Lösung für eine friedlichere Welt, sagt Sibel Arslan. «Kriegsrhetorik, wie wir sie von Herrn Aeschi gehört haben, hilft nicht weiter.»
Thomas Aeschi versucht, Arslan mit einer Gegenfrage herauszufordern – doch die grüne Nationalrätin lässt ausrichten, dass sie keine Frage beantworten will.
Grüne bewundern Kampf der Ukrainer
Die Grünen sind armeekritisch – doch dem Verteidigungskampf der Ukraine zollen auch sie Respekt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpften «mutig» für ihre Freiheit, sagt Grünen-Nationalrat Nicolas Walder. «Im Namen meiner Fraktion spreche ich ihnen unsere Bewunderung aus.»
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Aeschi will keine Iraker
Nur «richtige» Kriegsflüchtlinge dürften in die Schweiz kommen – Justizministerin Karin Keller-Sutter solle dies sicherstellen, fordert Thomas Aeschi (SVP). Er will keine «Nigerianer oder Iraker», die mit ukrainischem Pass in die Schweiz einreisten. Und warnt gar davor, dass solche «unechten» Flüchtlinge hier Ukrainerinnen vergewaltigen könnten.
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