Medizinisches WunderAnna kann wieder Treppen steigen und etwas durch die Nase atmen
Die 19-Jährige leidet seit drei Jahren an einer seltenen und besonders aggressiven Form der Krankheit ALS. Sie gilt als medizinisches Wunder, weil erstmals eine Therapie das Nervensterben bei ihr stoppen kann.
Anna ist im Juli 19 Jahre alt geworden. Ein Wunder, denn sie leidet an einer schweren und – eigentlich – unheilbaren Krankheit. Doch Anna ist die einzige Person, bei der jemals eine Therapie die Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) nicht nur bremsen, sondern umkehren konnte. «Das ist ein Riesendurchbruch», sagt ihr behandelnder Arzt Markus Weber.
Dabei ist der Leiter des Muskelzentrums und der ALS-Klink am Kantonsspital St. Gallen eher zurückhaltend. Anna sei ein absoluter Sonderfall, betont er. «Sie hat eine sehr seltene Form der sowieso schon seltenen Erkrankung ALS», sagt Weber. Bei Anna ist ein Gen krankhaft verändert, sodass bei ihr besonders schnell die Motoneuronen zugrunde gehen. Das sind die Nervenzellen, welche die Muskeln steuern.
Das äusserte sich am Anfang so merkwürdig, dass die Ärzte überhaupt nicht wussten, was Anna hatte. «Uns ist aufgefallen, dass Anna beim Sprechen plötzlich mitten im Satz Luft holte», sagt die Mutter, Sonja K.. Das sei im November 2019 gewesen. K. sitzt beim Onlinetreffen neben Anna vor dem Bildschirm im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses in einer Kleinstadt in Süddeutschland.
«Die Muskeln am Kopf verbessern sich in kleinen Schrittchen.»
Zuerst dachten die Eltern, das sei ein Tick. Doch dann ging die «Odyssee» los, sagt K. Anna wurde in einer Klinik durchgecheckt, nachdem sie immer kurzatmiger wurde. «Heute wissen wir, dass das von der schwächer werdenden Atemmuskulatur kam», sagt die Mutter. Die Ärzte tippten aber zunächst auf Lungenprobleme.
Im Februar fuhr die Familie – Vater, Mutter, Anna und ihre ein Jahr jüngere Schwester – zum Skifahren. Anna war sehr sportlich: Sie spielte Tennis und tanzte in einer Hip-Hop-Gruppe.
«Ich habe es immer geliebt, Sport zu machen», tippt sie in ihr Handy, und ihre Mutter liest es vor. Anna kann noch nicht wieder sprechen, und auch die Mimik ist eingeschränkt. «Die Muskeln am Kopf verbessern sich in kleinen Schrittchen», sagt die Mutter. Einer dieser letzten Erfolge ist, dass Anna nun auch wieder selbstständig ein bisschen durch die Nase atmen kann.
Sie sprach wie Mickey Mouse
Dann kam der Corona-Lockdown. Im März und April 2020 fand kein Training statt, sodass das Fortschreiten der Krankheit nicht auffiel. Im Mai wurde dann aber Annas Sprache immer unverständlicher, irgendwie «verwaschen», fand die Mutter. «Ich hörte mich an wie Mickey Mouse», tippt Anna ins Handy.
Nun ging die Suche nach der Ursache erst richtig los: Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt fand nichts, ein MRT vom Kopf zeigte ebenfalls keine Auffälligkeiten. Es war auch nichts «Psychosomatisches», wie Ärzte im Juli vermuteten. Als Anna immer dünner wurde – in wenigen Monaten verlor sie 15 Kilogramm – beschied ein weiterer Arzt «Essstörungen». Ein solcher Gewichtsverlust tritt indes bei zwei Drittel der ALS-Patientinnen und -Patienten auf, selbst wenn sie noch nicht unter Schluckstörungen leiden.
Auch die Diagnose Myasthenie war falsch. Bei dieser gestörten Signalübertragung von den Nerven zu den Muskeln helfen spezielle Medikamente – bei Anna nicht. «Schliesslich war der Neurologe in der Kinderklinik so ehrlich und sagte, er habe keine Idee mehr», erzählt die Mutter. Er verwies an den Münchner Experten Wolfgang Müller-Felber vom LMU-Klinikum.
Der Neurologe war der Richtige. Nach einer halben Stunde nannte Müller-Felber zwei Möglichkeiten: ein Riboflavin-Transportproblem, das mit Vitamin B2 behoben werden könnte – oder ALS. Anna bekam sofort das Vitamin und zudem eine nächtliche Atemmaske und eine Magensonde, mit der sie bis heute durch die Bauchdecke ernährt wird.
Stephen Hawking litt an ALS
Es war ALS. Das zeigte im Oktober 2020 die genetische Untersuchung. Es ist nicht ungewöhnlich, dass es monatelang dauert, bis eine Patientin oder ein Patient eine ALS-Diagnose bekommt. Dabei sei man bei der Diagnose in den letzten Jahren schneller geworden, sagt Markus Weber. «Es dauert durchschnittlich nur noch neun Monate. Vor 20 Jahren waren es noch 14 Monate», sagt der Arzt. Das Bewusstsein für die Krankheit habe sich verändert.
Das gilt jedoch nur für die sporadischen ALS-Formen, an der Patienten meist im Alter zwischen 50 und 70 erkranken. Ein berühmter Betroffener war der 2018 verstorbene Physiker Stephen Hawking. Und im August gab die Schauspielerin Sandra Bullock bekannt, dass ihr Partner Bryan Randall mit 57 Jahren an ALS gestorben sei. Bei diesen Fällen sind die Ursachen nicht bekannt.
Anna gehört jedoch zu den sehr seltenen genetisch bedingten ALS-Fällen, die nur 5 bis 10 Prozent der ALS-Betroffenen ausmachen und bereits Kinder und junge Erwachsene betreffen können. Inzwischen sind mehr als 50 Genmutationen bekannt, die zu ALS führen können. Bei Anna ist das sogenannte Fus-Gen krankhaft verändert. «Das Schlimme daran ist, dass es eine massiv aggressive ALS ist, die wahnsinnig schnell voranschreitet», sagt Sonja K. «Das haben wir auch bei Anna gesehen.»
In der Kinderklinik Stuttgart wollten die Mediziner der Familie keine Prognose geben. In der Regel überleben die Kinder mit dieser Mutation nach Ausbruch der Symptome höchstens ein bis eineinhalb Jahre. Bei Anna sind es jetzt über drei Jahre.
Anna habe grosses Glück, dass ihre «aussergewöhnlichen Eltern» für sie jeden Stein umgedreht haben, sagt der Neurologe Neil Shneider von der Columbia University in New York in einem Podcast. «So fanden sie zu mir.» Shneider ist einer der international führenden Experten für die seltenen Formen von ALS. Familie K. ist über Umwege – Annas Grossvater war Arzt, und ein entfernter Verwandter ist Genetiker in den USA – zu Shneider gelangt.
Dann ging alles sehr schnell. Die US-Mediziner wussten, dass die Zeit drängte, denn Shneider hatte möglicherweise ein Medikament für Anna: Das Jacifusen, benannt nach Jaci Hermstad, einer jungen Frau, die eine identische Mutation im Fus-Gen hatte wie Anna.
Eine experimentelle Substanz
Jacis Geschichte ist besonders tragisch, da ihre eineiige Zwillingsschwester im Alter von 17 Jahren, am 14. Februar 2011, an ALS gestorben ist. Auf den Tag genau acht Jahre später erhielt auch Jaci die Diagnose ALS. Die damals 25-Jährige, die von Neil Shneider betreut wurde, bekam eine experimentelle Substanz verabreicht, die zuvor noch nicht die nötigen Tests in Studien durchlaufen konnte. Jacis Krankheit schritt zu schnell fort. Das Medikament wurde in einem speziellen Zulassungsverfahren durch die US-Arzneimittelbehörde FDA eigens für Jaci genehmigt. Doch die Behandlung kam zu spät. Jaci starb am 1. Mai 2020 im Alter von 26 Jahren.
Shneider bot der Familie K. an, das Medikament für Anna nach Deutschland zu schicken. «Das ist aber bis heute nicht möglich – aus Haftungsfragen und vermeintlich ethischen Gründen», kürzt Sonja K. ihr Unverständnis darüber ab, dass deutsche Mediziner die experimentelle Substanz nicht verabreichen dürfen, obwohl einige Ärzte bereit dazu gewesen wären. Also flogen Anna und ihre Mutter Mitte Dezember 2020 nach New York. «Das war ziemlich abenteuerlich während der Corona-Pandemie mit einer Sondergenehmigung», erzählt die Mutter. Shneiders Team hatte auch für die damals 16-jährige Anna eine Sonderzulassung für das Medikament erwirkt.
Jacifusen ist ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid (ASO), eine Substanz, die genau auf den Gendefekt von Jaci und Anna abgestimmt ist. Bei den Betroffenen wird durch das veränderte Gen ein toxisches Protein gebildet, weswegen die Nervenzellen absterben, die für die Muskeln wichtig sind. Das Medikament blockiert die Herstellung des toxischen Proteins.
Personalisierte Therapien
Die ASO-Therapien machen grosse Fortschritte. Vor einigen Jahren kam der Wirkstoff Nusinersen (Spinraza) von der Firma Biogen auf den Markt. Diese Substanz, die gegen einen anderen Gendefekt eingesetzt wird (Spinale Muskelatrophie, SMA), kann Fehler im Erbgut korrigieren. Der Wirkstoff besteht ebenfalls aus synthetischen Oligonukleotiden.
Neben Jaci Hermstad und ihren Angehörigen gibt es weitere Fälle, wo sich die Betroffenen für personalisierte ASO-Therapien eingesetzt haben. Zum Beispiel Mila, bei der mit sechs Jahren ein Gendefekt entdeckt wurde, der zur unheilbaren Batten-Krankheit geführt hat, wo Nervenzellen im Gehirn absterben. Obwohl sich der Zustand der jungen Amerikanerin zwischenzeitlich durch die Therapie verbesserte, starb sie im Februar 2021 im Alter von 10 Jahren.
Auch die Eltern der kleinen Schweizerin Valeria sammelten eine Million Franken, sodass ihr Kind mit einem seltenen Gendefekt eigens eine spezielle ASO-Therapie erhielt. Das Mädchen starb trotz leichter Verbesserungen im September 2021 im Alter von 3,5 Jahren.
«Ohne den Mut und die Liebe» der Eltern gäbe es diese Medikamente nicht.
Inzwischen laufen vereinzelte Versuche, um Menschen mit sehr seltenen genetischen Erkrankungen mithilfe dieser Therapien zu helfen, weiss David Fischer von Charles River. Die US-Firma führt vorklinische Studien mit neuen Wirkstoffen durch. Da sei einiges in den letzten Jahren vorangegangen. Das wäre aber nicht möglich gewesen «ohne den Mut und die Liebe» der Familien, die sich für die Therapie ihrer Kinder eingesetzt haben, sagt Fischer.
«Doktor Shneider hat uns keine Wunder versprochen», sagt Sonja K. In Mäusen hatte die Substanz zwar gewirkt, aber Anna war erst die siebte Betroffene, die diese Substanz in die Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit, den Liquor, gespritzt bekam. Nach den Verträglichkeitstests blieben Anna und ihre Mutter bis zum März in den USA. Die Gefahr war zu gross, dass wegen der Pandemie das Reisen nicht mehr möglich gewesen wäre. Und Anna brauchte das Medikament alle vier Wochen.
«In New York wurde die Erkrankung schleichend schlechter, mit den Beinen und Armen», tippt Anna in ihr Handy. Sie sei schneller müde geworden und musste mehr Pausen machen, aber vor allem wegen der Atemmuskulatur, fügt die Mutter an. «Das Medikament wirkt natürlich nicht so schnell wie eine Kopfschmerztablette», sagt Sonja K.
Doch das Medikament wirkte. Zuerst ein bisschen, Annas Krankheit schritt weniger schnell voran. Im März flogen Anna und ihre Mutter zurück nach Deutschland und dann noch dreimal nach New York zur Therapie, eine Strapaze für die Kranke. Im Juli gab es dann endlich eine bessere Lösung. Wieder über Umwege kam Familie K. in Kontakt mit dem Schweizer ALS-Zentrum und mit Markus Weber.
Was in Deutschland nicht möglich ist, gelang dem Team aus der Schweiz in kurzer Zeit: Nach Rücksprache mit der Arzneimittelzulassungsbehörde Swissmedic und der lokalen Ethikkommission genehmigte das kantonale Gesundheitsdepartement die Einfuhr, sodass Anna das Jacifusen erhalten konnte. «Ich bin dem Team in St. Gallen sehr dankbar», tippt Anna ins Handy, und die Mutter bestätigt, wie gut sie sich dort aufgehoben fühlen.
Aber es ging nicht nur aufwärts. «Im August 2021 war der absolute Tiefpunkt», tippt Anna. Sie bekam eine Lungenentzündung, was bei ALS-Patienten öfter vorkommt, wenn die Atemmuskulatur betroffen ist. «Die ganze Lunge war voller Schleim. Da ist sie dann kollabiert und musste 20 Minuten lang reanimiert werden», sagt die Mutter. Zum Glück sei das im Spital passiert, wo Anna zu einer Routinekontrolle war. Die Ärzte waren skeptisch, dass Anna diesen Rückschlag überleben würde.
Anna kämpfte sich zurück ins Leben
Zwei Wochen lang war Anna im künstlichen Koma, um die Lunge auszuheilen. Danach konnte Anna sich komplett nicht mehr bewegen. «Ich kann mich bis heute kaum bis gar nicht mehr an die Zeit erinnern», tippt Anna.
Nach zehn Tagen konnte sie die Finger wieder etwas bewegen und dann die Beine. Das habe Anna auch zwei sehr engagierten jungen Therapeuten von der Intensivstation zu verdanken, dass sie sieben Wochen nach dem Zusammenbruch bei der Entlassung ein paar Schritte bis zum Krankenwagen gehen konnte, sagt K. Zurück zu Hause, wurde sie rund um die Uhr von Fachkräften gepflegt – zunächst palliativ.
Doch Anna kämpfte sich ins Leben zurück, mit Unterstützung der Therapeuten. «Sie hat sich Woche für Woche verbessert», sagt Markus Weber, der Anna nun seit über zwei Jahren kennt. Und er fügt an: «Ich bewundere Annas Stärke – auch ihre psychische Stärke –, auch von der ganzen Familie, wie sie die Krankheit gemeinsam durchstehen. Das ist etwas ganz Besonderes.»
Anna kommt jetzt nur noch alle zehn Wochen nach St. Gallen, um das Medikament zu erhalten. Die Abstände zwischen den Behandlungen könnten noch grösser werden. Wie genau die optimale Behandlung auch für andere Patientinnen und Patienten mit dem Gendefekt von Anna aussehen sollte, wird derzeit in einer internationalen Studie mit 77 Erkrankten erprobt. St. Gallen ist eines der Testzentren für Betroffene in der Schweiz, Österreich oder Deutschland. Wenn die Studie positiv verläuft, kann das Medikament offiziell zugelassen werden.
Im Gespräch tippt Anna noch was ins Handy: «Wir dürfen einen wichtigen Part nicht vergessen.» Die Mutter lächelt. Sie weiss, was kommt: «Snoopy», tippt Anna. Ihr wichtigster Therapeut. Der Golden Retriever spürt, wenn es ihr nicht gut geht.
Hinzu kommt, dass Anna sehr diszipliniert ist. Das bescheinigen ihr die Mutter und der Arzt. «Sie trainiert extrem hart und zeigt einen unbedingten Willen, die Krankheit in den Griff zu bekommen», sagt Weber. «Anna war ganz schlecht dran, als ich sie nach der Lungenentzündung das erste Mal wieder sah. Sie wurde rund um die Uhr beatmet und hatte ganz klar eine Schwäche in den Beinen, in der Hüftmuskulatur», sagt der Arzt. Jetzt sei sie nur noch nachts an der Beatmungsmaschine und kann wieder ganz normal die Treppe hochgehen.
«So etwas habe ich bislang in meiner Karriere noch nicht gesehen», sagt der ALS-Experte, der seit über 25 Jahren Betroffene behandelt. Bei Anna konnte die Krankheit nicht nur aufgehalten werden, sondern es sind sogar Funktionen zurückgekommen. «Die überlebenden Motoneuronen bei Anna können die Funktionen von den verloren gegangenen übernehmen», sagt Weber. Dabei spiele sicher auch eine Rolle, dass Anna noch so jung sei und ihr Körper sich deshalb schneller regenerieren könne.
Anna wird noch immer rund um die Uhr betreut durch ein kompetentes Pflege- und Therapeutenteam. Ihre Tage sind mit zahlreichen Therapien, Übungen und Fernunterricht ausgefüllt. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse. Anna trainiert diszipliniert weiter. Noch ist der Schultergürtel betroffen. «Da sind wir am Trainieren», sagt die Mutter. Auch die Muskulatur, die Anna zum Schlucken und Sprechen braucht, ist noch schwach.
An ihrem Geburtstag hat Anna aber ein ganz kleines bisschen Pistazieneis gelutscht – und geschluckt. Ein weiterer winziger Schritt voran.
Fehler gefunden?Jetzt melden.