Hawking erklärt uns seine Welt
In seinem letzten Buch sucht Stephen Hawking nach Antworten auf grosse Fragen, von der Existenz Gottes über die Möglichkeit von Zeitreisen bis zur Zukunft der Menschheit.
«Newton gab uns Antworten. Hawking gab uns Fragen», sagte der US-amerikanische Astrophysiker und Nobelpreisträger Kip Thorne in seiner Grabrede für Stephen Hawking. Während Newton erklärte, warum der Apfel vom Baum fällt und die Planeten um die Sonne kreisen, hat Hawking Fragen im Zusammenhang mit schwarzen Löchern hinterlassen: Wie sieht deren Innenleben genau aus? Vernichten sie Information unwiderruflich?
Nicht nur von derlei physikalischen Dingen, sondern auch von einigen grossen Fragen der Menschheit handelt das neueste Buch von Stephen Hawking mit dem Titel: «Kurze Antworten auf grosse Fragen». Zehn Fragen stellt er darin, etwa: Gibt es einen Gott? Wie hat alles angefangen? Können wir die Zukunft vorhersagen? Werden wir auf der Erde überleben? Wird uns die künstliche Intelligenz überflügeln?
Hawking sei, erfährt man im Vorspann, von Wissenschaftlern, Unternehmern, Geschäftsleuten, Politikern und der Öffentlichkeit regelmässig nach seinen Gedanken zu allem Möglichen befragt worden. Er unterhielt ein umfangreiches Archiv mit seinen Antworten. Daraus entstand gegen Ende seines Lebens das heute posthum veröffentlichte Buch.
Mit Blaulicht nach Luzern
Beinahe wäre es nicht dazu gekommen. Wie Hawking schreibt, hätte er nach der Empfehlung von Schweizer Ärzten schon vor Jahrzehnten das Zeitliche gesegnet. 1963, im Alter von 21 Jahren, wurde bei ihm amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert, eine unheilbare Erkrankung des Nervensystems.
Anfang der 1980er-Jahre habe sich sein Gesundheitszustand verschlechtert. Als er 1985 die Europäische Organisation für Kernforschung (Cern) bei Genf besuchte, bekam er eine Lungenentzündung. «Mit Blaulicht brachte man mich in das Kantonsspital in Luzern und schloss mich an ein Beatmungsgerät an», schreibt er. Die Ärzte teilten seiner Frau Jane mit, seine Krankheit sei nun so weit fortgeschritten, dass man nichts mehr für ihn tun könne und es am besten sei, die Geräte abzuschalten und sein Leben zu beenden. «Doch Jane weigerte sich und liess mich mit einem Flugzeug ins Addenbrooke's Hospital in Cambridge transportieren.»
Hawking lebte noch mehr als drei Jahrzehnte und beschert uns nun, quasi aus dem Jenseits, an das er gar nicht glaubte, sein letztes Buch. Bei der ersten Frage, die Hawking behandelt – Gibt es einen Gott? –, stellt sich auch dem Leser eine Frage: Was hat ein Physiker bei diesem Thema zu vermelden, selbst wenn er Stephen Hawking heisst? Sollte man die Frage nach Gott nicht den Theologen überlassen? Erstaunlicherweise kann die Physik aus Hawkings Sichtweise sehr viel zur Beantwortung dieser Frage beitragen.
«Ich nehme an, der Glaube an ein Jenseits ist ein Wunschdenken.»
Hawking argumentiert, dass aus wissenschaftlicher Perspektive letztlich kein Platz für einen Schöpfergott übrig bleibt. Selbst der Urknall lasse sich nicht als Moment der Schöpfung interpretieren. Denn nach dem Verständnis der Physiker könne das Universum «ganz einfach aus dem Nichts aufgetaucht sein, ohne die bekannten Naturgesetze zu verletzen». Es liege ihm zwar fern, irgendjemand in seinem religiösen Glauben zu verletzen, aber er sei überzeugt, dass die Naturwissenschaften eine schlüssigere Erklärung lieferten als ein göttlicher Schöpfer. «Das führt zu einer weitreichenden Erkenntnis», schreibt er später im selben Kapitel: «Es gibt wahrscheinlich keinen Himmel und kein Leben nach dem Tod. Ich nehme an, der Glaube an ein Jenseits ist lediglich Wunschdenken.»
In 50 Jahren zum Mars
Zu Recht teilt Kip Thorne in seinem Vorwort die Fragen von Hawking ein in solche, die tief in seiner Wissenschaft verwurzelt sind, und in jene, die er, wenn auch «voller Weisheit und Kreativität», als Laie beantwortet. Ob es anderes intelligentes Leben im Universum gibt, ist sicher teils eine Frage der Astronomie, etwa wenn es um die Anzahl erdähnlicher Planeten im Universum geht. Aber der entscheidende Input, wie und wie häufig Leben überhaupt entstanden ist, geht weit über die fachlichen Kompetenzen von Hawking hinaus.
Ähnlich verhält es sich bei der Frage, ob wir auf der Erde überleben werden. Weil wir unserem Planeten «das katastrophale Geschenk des Klimawandels» und andere Probleme wie Überbevölkerung und die Bedrohung mit Atomwaffen beschert hätten, bleibe uns keine andere Wahl, als auf andere Planeten auszuweichen, schreibt Hawking. Der Aufbruch ins Weltall sei vielleicht die einzige Möglichkeit, uns vor uns selbst zu retten.
Am Anfang war das Nichts
Sein sehr optimistisches Szenario: «Wir könnten innerhalb von 30 Jahren auf dem Mond einen Stützpunkt haben, den Mars in 50 Jahren erreichen und die Monde der äusseren Planeten in 200 Jahren erkunden.» Allerdings ist der Mensch nicht für das Weltall gemacht – darüber verliert Hawking kein Wort. Das grösste Problem ist die kosmische Strahlung. Auf dem Weg zum Mars und zurück würden Weltraumreisende wohl eine tödliche Dosis abbekommen. Skepsis an der Besiedlung des Weltraums wäre durchaus angebracht, sie ist dem Buchautor aber fremd.
Überzeugender ist Hawking dort, wo es um Physik geht. Dank einer klaren Sprache und mit Vergleichen aus der Alltagswelt bringt er dem Leser die physikalischen Zusammenhänge sehr anschaulich nahe. Wie das Universum entstanden sein könnte, erläutert er zum Beispiel mit einem Mann, der einen Erdhügel aufschichtet. Je höher der Hügel, desto tiefer wird das Loch daneben, aus dem er die Erde nimmt. Das gleiche Prinzip liege dem Anfang des Universums zugrunde: «Als der Urknall eine gewaltige Menge an positiver Energie erzeugte, produzierte er gleichzeitig dieselbe Menge an negativer Energie. Auf diese Weise ergänzen sich das Positive und das Negative immer zu null.» Um das Universum zu beginnen, braucht es demnach: nichts.
Party für Zeitreisende
Immer wieder lässt Hawking seinen Humor aufblitzen. Etwa beim Thema Zeitreisen. «Im Jahr 2009 veranstaltete ich eine Party für Zeitreisende in meinem College», schreibt er. «Damit nur echte Zeitreisende kommen, habe ich die Einladungen erst nach der Party verschickt. Am Tag der Party sass ich im College und hoffte, aber niemand kam.»
Etwas ärgerlich sind inhaltliche Dopplungen. Gelegentlich taucht ein nahezu identischer Satz zweimal auf, etwa als Hawking zu künstlicher Intelligenz (KI) schreibt: «Das Aufkommen superintelligenter KI wäre entweder das Beste oder das Schlimmste, was der Menschheit passieren kann.» Den gleichen Satz kann man nach 20 Seiten nochmals lesen. Das wirkt, als hätte Hawking seine Antworten teils aus einem Baukasten fertiger Sätze zusammengefügt.
Nichtsdestotrotz: Insgesamt betrachtet ist «Kurze Antworten auf grosse Fragen» ein anregendes und für den Laien gut verständliches Buch, dessen Lektüre sich auf jeden Fall lohnt. Man sollte einfach im Hinterkopf behalten, dass Hawking die Trennlinie zwischen Wissenschaft und persönlicher Meinung nicht immer klar zieht. Und leider, muss man sagen, hat er sich zur Beantwortung von Fragen jenseits seines Fachgebiets hinreissen lassen. Das wäre gar nicht nötig gewesen. Weniger wäre hier mehr gewesen.
Denn Hawking war mit Sicherheit ein Physiker, der in seinem Fachgebiet, der Astrophysik und der Kosmologie, Grosses geleistet hat und viel zu sagen hatte. Das macht Thorne in seiner Grabrede auch unmissverständlich klar, als er auf die Bedeutung von Hawkings (wissenschaftlichen) Fragen eingeht: «Und Hawkings Fragen hören nicht auf, noch Jahrzehnte später zu Durchbrüchen zu führen. Wenn wir einst die Gesetze der Quantengravitation wirklich beherrschen werden und wenn wir die Geburt unseres Universums ganz und gar verstehen, dann wird das sehr wahrscheinlich daran liegen, dass wir auf den Schultern von Stephen Hawking stehen.»
«Kurze Antworten auf grosse Fragen» ist ab Montag erhältlich.
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