Neuer Hizbollah-FührerNaim Qassem befehligt jetzt die mächtigste Miliz des Nahen Ostens – doch seine Kämpfer sind geschwächt
Zuletzt wirkte er eher im Hintergrund, nun wurde Naim Qassem zum neuen Hizbollah-Chef bestimmt. Kann der Nachfolger des getöteten Hassan Nasrallah weiter Unheil anrichten?
- Hizbollah-Funktionär Naim Qassem übernimmt nach Nasrallahs Tod die Führung.
- Qassem hat Jahrzehnte Erfahrung als ranghoher Funktionär der Terrorgruppe.
- Israel hat mehrere Schlüsselfiguren der Hizbollah ausgeschaltet.
Einen Monat nachdem die israelische Armee Hizbollah-Chef Hassan Nasrallah in einem Viertel von Beirut getötet hat, übernimmt mit Naim Qassem ein Veteran die Führung der libanesischen Guerillatruppe. Das gab die Hizbollah am Dienstag bekannt.
Qassem ist seit über drei Jahrzehnten ein ranghoher Funktionär der stärksten Terrorgruppe des Nahen Ostens. Er war bisher ihr stellvertretender Generalsekretär. In dieser Rolle wandte er sich nach der spektakulären Tötung von Hassan Nasrallah an die Öffentlichkeit. In einem 19-minütigen Video versuchte Qassem, die Hizbollah-Kämpfer zu ermutigen, die Angriffe auf Israel fortzusetzen.
Er sagte, die Hizbollah wolle «alle Brüder in Gaza unterstützen und im Libanon beschützen». Obwohl er viel Erfahrung als Redner vor seinen Anhängern hat, machte Qassem Ende September den Eindruck eines tief besorgten Terroristenführers, dem der Schweiss von der Stirn lief.
Schlüsselfiguren der Hizbollah ausgeschaltet
Die schiitischen Eiferer im Libanon haben allen Grund, um ihr Leben zu fürchten. Seit dem Terroranschlag der palästinensischen Hamas auf unschuldige Zivilisten in Israel am 7. Oktober 2023 hat die israelische Armee etwa zehn Schlüsselfiguren der Hizbollah ausgeschaltet. Qassem wirkte zuletzt eher im Hintergrund.
Offenbar war er nicht die erste Wahl als Nachfolger von Nasrallah. Nach dessen Ermordung gab es Vermutungen, dass sein Cousin Hashem Safieddine die Führung der Hizbollah übernehmen könnte. Doch auch er wurde Anfang Oktober von Israel getötet.
Vergangene Woche hielt der Hizbollah-Sprecher Mohammad Afif eine Pressekonferenz im Stadtteil Dahiyeh in Beirut. «Wir werden gewinnen», sagte er, als plötzlich die Nachricht die Runde machte, eine israelische Kampfdrohne sei im Anflug. Ein Reporter fragte: «Herr Afif, was denken Sie darüber?» Der Hizbollah-Mann rannte davon, er konnte nur noch folgende Worte sagen: «Der Widerstand geht weiter.» Die Szene wurde tausendfach in den sozialen Medien verbreitet und sorgte für Spott und Gelächter im Libanon.
Noch nicht geschlagen
Naim Qassem steht nun an der Spitze einer Terrororganisation, die nach den jüngsten Angriffen Israels deutlich geschwächt wirkt. Anfang Oktober zirkulierten in arabischen und israelischen Medien Meldungen, wonach Qassem aus Angst vor einem Attentat Israels aus dem Libanon geflüchtet sei. Er habe seine Heimat an Bord eines iranischen Flugzeugs in Richtung Teheran verlassen.
Dennoch ist die Hizbollah noch nicht geschlagen. Fast täglich greift sie israelische Städte wie Haifa und Tel Aviv mit Raketen an und zwingt Tausende Menschen in Schutzräume. Als erfahrene Guerilla praktiziert die Hizbollah die Hit-and-Run-Taktik: Kleine, bewaffnete Gruppen tauchen überraschend auf, eröffnen das Feuer und ziehen sich dann zurück. Für solche Aktionen sind keine ausgeklügelten Kommandostrukturen erforderlich.
Naim Qassem kann also noch viel Unheil anrichten, seine Kämpfer sollen über 150’000 Raketen verfügen. Es ist jedoch offensichtlich, dass die Hizbollah erheblich isoliert wurde in den letzten Wochen. Die Unterstützung aus dem Iran besteht mehr aus Rhetorik als aus Waffen, während arabische Länder nicht bereit sind, eine schiitische Truppe im Libanon zu unterstützen.
Er interessierte sich auch für weltliche Themen
Naim Qassem wurde 1953 im Südlibanon geboren. Er ist verheiratet und Vater von sechs Kindern. Schon in seiner Jugend widmete er sich dem Kampf um die Vorherrschaft der Schiiten im Nahen Osten. Im Gegensatz zu den meisten Führern der Hizbollah, die religiöse Schulen in den schiitischen heiligen Stätten im Irak und im Iran besucht haben, interessierte sich Qassem auch für weltliche Themen. Er hat neben Religion auch Chemie und Französisch studiert. So wurde er zu einem der wichtigsten Sprecher der Hizbollah, der oft mit regionalen und internationalen Medien sprach.
Qassem stieg 1991 zum stellvertretenden Generalsekretär der Hizbollah auf, als Abbas al-Musawi die Hizbollah leitete. Al-Musawi wurde 1992 bei einem israelischen Helikopterangriff getötet. Sein Nachfolger wurde Hassan Nasrallah.
Seine politische Karriere begann Qassem Mitte der 1970er-Jahre in der schiitischen Amal-Bewegung, die er nach der islamischen Revolution im Iran 1979 verliess und sich der neu gegründeten Hizbollah anschloss. Damals wie heute blicken viele Hamas-Fanatiker nach Teheran, sie wurden vom dortigen Mullah-Regime geprägt.
Bislang war Qassems Priorität nicht nur der Kampf gegen Israel. Die Hizbollah ist im Libanon auch eine politische Partei, und Qassem hatte grossen Einfluss auf die parlamentarische Fraktion der «Partei Gottes», wie sich ihr Name übersetzen lässt. Er hielt Vorlesungen zu theologischen Fragen, schrieb ein Buch über das Innenleben der Hizbollah.
Es ist ein Werk, das ungewollt die ideologische Blindheit der schiitischen Organisation offenbart, die mehr an der Umsetzung der iranischen Agenda im Nahen Osten interessiert ist als am Wohlergehen der Bürger im Libanon. Qassem schreibt, Hunderte Milliarden Dollar seien der Hizbollah für den Wiederaufbau des Südlibanon angeboten worden, wenn sie ihre Waffen niederlege. «Aber wir haben ihnen gesagt, dass wir nicht auf Hilfe angewiesen sind – und dass der Widerstand unabhängig von den Konsequenzen fortgesetzt wird.»
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