Schweizer Hilfsbereitschaft Lesende spenden grosszügig Geld für armutsbetroffene Frau
Vor kurzem hat Eva M. dieser Redaktion erzählt, wie sie nach der Scheidung in die Armut abgerutscht ist. Etliche Leserinnen und Leser haben ihr Mitgefühl bekundet oder Hilfe angeboten.

Vor kurzem hat Eva M. – ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt – hier ihre Geschichte erzählt. Sie ist Ende 50, ihre Ehe wurde 2020 nach 37 Jahren geschieden, und sie stand nach der Scheidung auch finanziell vor dem Nichts. Und obwohl Eva M. 40 Jahre lang gearbeitet und in der Schweiz Steuern gezahlt hat, erwies sich unser soziales Auffangnetz nicht als tragfähig. Hilfe kam dafür von unseren Lesenden.
Nach einer schwierigen Zeit, die sie auch psychisch in eine Krise stürzte, hat sie sich hochgeackert: Inzwischen hat Eva M., die trotz allem erstaunlich jung geblieben wirkt, eine feste 80-Prozent-Stelle als Kassiererin in einem Supermarkt. Ihr kleiner Verdienst von aktuell etwa 2500 Franken raubt ihr zwar das Recht, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen – sie hat dafür nämlich 60 Franken zu viel in der Tasche pro Monat –, reicht aber hinten und vorne kaum zum Leben; und für «Extras» wie den dringend benötigten Zahnarzt schon gar nicht. Eva M. fühlt sich finanziell, körperlich und seelisch am Anschlag.
Unser System führt immer wieder zu solchen Situationen. Expertinnen und Experten schlagen daher diverse Änderungen vor wie etwa die Erhöhung des sozialhilferechtlichen Existenzminimums, um die Auswirkungen von Armut, Verschuldung und Armutsgefährdung zu dämpfen und insbesondere auch Schuldnern einen Ausweg aus der Negativspirale zu ermöglichen.
Unsere Leserinnen und Leser wiederum haben in über 400 Kommentaren zu dem Artikel vielfach gezeigt, was die Forschung schon länger behauptet: dass wir, im Grunde, eine mitfühlende und hilfsbereite Spezies sind.
Je höher das Pro-Kopf-Einkommen, desto niedriger die Hilfsbereitschaft, sagt eine Studie.
So belegen die Studien von Entwicklungspsychologe Robert Hepach (Universität Oxford), dass Zweijährige ein intrinsisches Bedürfnis haben, Menschen zu Hilfe zu eilen, wenn sie können – zum Beispiel helfen sie spontan und ohne zu zögern, wenn jemandem ein Löffel herunterfällt. Erst mit ungefähr drei Jahren fliessen soziale Normen und auch «Kosten-Nutzen-Berechnungen» beim helfenden Verhalten mit ein, und die unreflektierte Spontanität nimmt ab. Erwachsene schliesslich flüchten oft in die Verantwortungsdiffusion und tun nichts.

Der bekannte amerikanische, 2019 verstorbene Freundlichkeitsforscher und Sozialpsychologe Robert Levine machte einen systematischen Zusammenhang zwischen geringerer Bevölkerungsdichte, geringerer Bevölkerungszahl, langsamerem Schritttempo der Passanten und grösserer Hilfsbereitschaft aus. Generell erwiesen sich, so Levine, die Menschen in den lateinamerikanischen Städten – auch den riesigen – als hilfsbereiter als jene etwa in anglofonen. Einer der wichtigsten Aspekte sei das Pro-Kopf-Einkommen: Liege dieses höher, verzeichne die Hilfsbereitschaft niedrigere Werte.
Vielleicht ist es darum keine Überraschung, dass die Schweiz beim jüngsten sogenannten World Giving Index – mit dem jährlich die Wohltätigkeit eines Landes ausgewiesen wird – keineswegs unter den Top Ten rangiert. Sondern unser Land befindet sich im Report 2022 auf Platz 76, in der Kategorie «Einem Fremden helfen» sogar unter den letzten Plätzen (115). Der Bericht beruht auf repräsentativen Umfragen dazu, ob man im Monat zuvor Ehrenamtliches geleistet hat, einer wohltätigen Organisation Geld gespendet hat oder, eben, einer wildfremden Person geholfen hat.
Zum Heer der 1’244’000 Menschen, die in der Schweiz als armutsgefährdet gelten, zählt auch Eva M.
Platz 1 der Hilfsbereitschaft und Freigebigkeit erreicht in der letzten publizierten Befragung übrigens zum fünften Mal in Folge Indonesien, was die Forschenden vor allem mit den dortigen kulturell-religiösen Normen erklären. Auf Platz 2 steht Kenia, Platz 3 haben allerdings die USA inne, gefolgt von Australien und Neuseeland – die nun allesamt nicht gerade zu den ärmsten Ländern gerechnet werden. Ganz am Ende finden sich Kambodscha (119) und Japan (118).
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Eine Haltung, die derzeit vor allem reiche technikaffine Menschen wie Elon Musk davon abhält, sich für Ärmere einzusetzen, ist der «Longtermism», der «Langzeitismus». Der Begriff selbst wurde auch schon als «Modewort der Philanthropie 2023» bezeichnet, hinter ihm steckt eine Art Sci-Fi-Perspektive. Mit Blick auf die zukünftigen Menschen – die zahlenmässig die heutigen übertreffen werden, wie die Longtermisten annehmen – richten sich alle derartigen philanthropischen Bestrebungen allein auf die Zukunft. Entsprechend wird lieber eine Menge Geld für eine künftige Weltraumkolonisierung ausgegeben als für die Verbesserung der Lebensumstände von gegenwärtigen Sozialhilfeempfängern oder Ausgebeuteten. Andere kritisieren dieses Konzept scharf.
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Zum Heer der 1’244’000 Menschen, die in der Schweiz als armutsgefährdet gelten und in einem Einpersonenhaushalt von nicht mehr als rund 30’200 Franken pro Jahr leben, zählt, wie fast jede siebte Person, auch Eva M. Sie lebt äusserst sparsam und versucht, alle laufenden Kosten abzudecken, auch die Ratenzahlungen für ihre Kreditkarten-Schulden. Es kam für sie völlig unerwartet, so viel Zuspruch von Unbekannten zu erfahren, auf den auch die obige Statistik nicht recht hatte hoffen lassen.
Tatsächlich haben sich rund ein halbes Dutzend Leserinnen und Leser direkt an unsere Redaktion gewandt und Eva M. konkrete materielle wie immaterielle Hilfe angeboten. Am Montag Mittag, 17. Juli, sind für Eva M. bereits 15’000 Schweizer Franken fix gesprochen; sie werden von ihrer Sozialberatung verwaltet. Eva M. sagt: «Ich möchte diesen Menschen von Herzen danken. Das ist eine riesengrosse Geste, ich habe keine Worte, um das zu beschreiben!»
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