Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Aufruf zur Rückkehr: Eine Ukrainerin antwortet
«Wir sollen heim nach Kiew? Dieser Typ hat keine Ahnung!»

Olena Andreyeva, Flüchtende aus der Ukraine, Lehrerin, bei ihrer Gastfamilie in Basel, 06.05.2022, Foto Lucia Hunziker
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

«Die Gastländer sollten aufhören, die Flüchtlinge zu unterstützen, damit sie heimkehren», sagte Serhi Leschtschenko letzte Woche am Rande des WEF. Er gehört zum Beraterteam des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. Laut Leschtschenko liesse die Sicherheitslage eine Rückkehr problemlos zu. «Wir haben 3 Millionen Menschen, darunter Hunderttausende Kinder, die in Kiew leben», sagte er. «Das Argument, es sei nicht sicher, ist Unsinn.»

In der Schweiz leben zurzeit knapp 66’000 ukrainische Flüchtlinge mit Schutzstatus S. Laut Finanzministerin Karin Keller-Sutter kosten sie mindestens eine Milliarde Franken pro Jahr. Dies liegt vor allem an der tiefen Erwerbsquote. Nur 21 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge im erwerbsfähigen Alter haben gemäss den neuesten Zahlen des Staatssekretariats für Migration einen Job.

Was sagen die Geflüchteten zum Aufruf, in die Heimat zurückzukehren? Wir fragten nach bei Olena Andreyeva, 57 Jahre alt, die im Frühling 2022 in die Schweiz kam. In der Ukraine hatte sie Germanistik studiert und bis zum Beginn des Kriegs in Kiew Deutsch für 2.- bis 8.-Klässler an einer Privatschule unterrichtet. Ihre guten Sprachkenntnisse sind auch in der Schweiz gefragt. Bis letzten Herbst unterrichtete sie in Basel mehrere Klassen mit Flüchtlingskindern. 

«Serhi Leschtschenko wird niemals das Schicksal der Flüchtlinge verstehen, da er nie seinen Job, sein Einkommen oder sein Zuhause verloren hat. Ihm waren immer Verbindungen beschieden, die den meisten ausgewanderten Ukrainern fehlen. Als er im Jahr 2014 unter dem damaligen Präsidenten Petro Poroschenko Abgeordneter wurde, verdiente er so gut, dass er sich eine schicke Wohnung im Zentrum von Kiew kaufen konnte. Das empörte schon damals viele in der Ukraine.

Nicht glaubwürdiger macht ihn auch, dass er seit 2019 im Aufsichtsrat der korruptionsanfälligen Eisenbahngesellschaft Ukrzaliznytsia sitzt – zumal er dort so viel verdient, wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer nicht zu träumen wagen. Dass nun ausgerechnet er Flüchtlinge dazu aufruft, in die Ukraine zurückzukehren, ist in meinen Augen ein Hohn.

Er sollte sich auf seine Aufgabe als Berater des Präsidenten konzentrieren, anstatt den ukrainischen Flüchtlingen zu erklären, wie sie ihr Leben gestalten sollen. Seine Aussagen sind eine Beleidigung für alle ukrainischen Flüchtlinge, die gezwungen waren, ihr Zuhause und ihre Freunde zu verlassen, um ein neues Leben zu beginnen.

Leschtschenko sagt, es sei in Kiew sicher? Vielleicht in seiner Wohnung, aber sicher nicht dort, wo die breite Bevölkerung wohnt. Mein Sohn sowie viele Freunde leben noch immer in der Ukraine. Tatsache ist, dass in Kiew trotz Luftabwehrsystemen Raketen oder Raketenfragmente jederzeit in jedes Wohnhaus einschlagen können. Ein Bekannter von mir zog in ein anderes Stadtviertel in der Annahme, dass es dort sicherer ist. Aber bei einem russischen Angriff vor kurzem schlugen Raketenfragmente 500 Meter von seinem Haus entfernt ein.

Auch kann keine Rede davon sein, dass der Unterricht in den Schulen wie vor dem Krieg stattfinden kann, wie Leschtschenko behauptete. Nicht nur wegen der Luftangriffe, sondern auch wegen Bombendrohungen muss der Unterricht immer wieder unterbrochen und auf Fernunterricht umgestellt werden, wobei die Internetverbindungen immer wieder zusammenbrechen. 

Leschtschenko sagt, dass Rückkehrer Geld in die ukrainische Wirtschaft investieren könnten. Da frage ich mich: welches Geld? Mit dem Beginn des Krieges brachen Geschäfte und Einkommen zusammen. Heute liegen die Durchschnittslöhne in Kiew zwischen 392 und 524 Dollar. Mit diesem Gehalt kann man kaum allein überleben, geschweige denn eine Familie ernähren. Allein die Nebenkosten machen während der Heizsaison 40 bis 60 Prozent der Haushaltseinkommen aus.

Zwar verabschiedete Präsident Selenski ein Gesetz zur Begrenzung der Kosten für Strom und Heizung, aber sie steigen dennoch. Auch beträgt der Preis für Lebensmittel mittlerweile das 1,5-Fache, und in den nächsten Monaten werden Fleisch und Milchprodukte nochmals teurer werden. Darüber hinaus plant die Regierung in naher Zukunft, das Sozialsystem umzustrukturieren. Das sind alles andere als rosige Aussichten für Rückkehrerinnen. 

Ich verstehe deshalb, dass viele meiner Landsleute skeptisch sind und für ihre Kinder eine andere Zukunft möchten. Ja, viele geflüchtete Frauen in der Schweiz sind derzeit noch ohne Job. Dies liegt vor allem an den Sprachbarrieren. Doch ich bin sicher, dass die meisten gerne arbeiten würden. Auch meine Stelle ist ausgelaufen, und ich bin zurzeit am Bewerbungen-Schreiben. Ich könnte mir vorstellen, dass man mich gut in der Administration einsetzen könnte. Beispielsweise im Altersheim. Ich könnte mit meinen sehr guten Deutschkenntnissen als Schnittstelle fungieren, auch zwischen anderen Ukrainerinnen. Wir werden sehen. 

Ich bin auf jeden Fall optimistisch, dass ich bald wieder etwas finde. Denn auch ich kann mir nicht vorstellen, in nächster Zeit in die Ukraine zurückzukehren. Meine Familie ist darauf angewiesen, dass ich einen guten Lohn verdiene und sie von hier aus unterstützen kann. Wir Ukrainerinnen sind stolz. Wir wollen uns und auch der Welt zeigen: Wir sind es gewohnt, hart zu arbeiten, wir können für uns selbst schauen. Das gibt uns die Würde zurück, die uns der Krieg genommen hat.»