Mehr Geld gefordert Migros, Coop & Co. könnten die Menge geretteten Essens verdreifachen
Food-Waste-Organisationen brauchen Hilfe, um unverkaufte Lebensmittel einzusammeln und zu verteilen. Jetzt sagen Politik und Wissenschaft: Detailhändler sollen ihre Spenden erhöhen.
330 Kilo Fleisch, Gemüse, Milchprodukte und andere für den Schweizer Konsum hergestellte Lebensmittel landen jedes Jahr im Abfall – pro Kopf der Schweizer Bevölkerung. Dabei könnten einfache Massnahmen helfen, diese Verschwendung zu vermindern.
Wissenschaftler und Politikerinnen nehmen Coop, Migros und andere Händler in die Pflicht. Sie sollen Spendenorganisationen stärker finanziell unterstützen. Denn mit zusätzlichen Mitteln könnten diese Organisationen mehr Lebensmittel, die kurz vor dem Ablaufdatum stehen, in den Supermärkten abholen und an Bedürftige verteilen.
«Die Entschädigungen, die Spendenorganisationen derzeit vom Handel erhalten, sind bei weitem nicht kostendeckend.»
Laut Claudio Beretta, wissenschaftlichem Mitarbeiter für Food-Waste-Vermeidung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, bieten diese Organisationen den Detailhändlern eine Logistikdienstleistung. «Dafür sollten sie angemessen bezahlt werden.»
Zurzeit sei das nicht der Fall. «Die Entschädigungen, die Spendenorganisationen derzeit vom Handel erhalten, sind bei weitem nicht kostendeckend», sagt Beretta, der im Auftrag des Bundes Leitfäden für die Vermeidung von Lebensmittelabfällen erarbeitet hat.
Zu den wichtigsten Organisationen, die solche Esswaren einsammeln, gehört die Stiftung Schweizer Tafel. Angesichts der finanziellen Lage könne sie das Potenzial der zu rettenden Lebensmittel nicht ausschöpfen, sagt Geschäftsleiter Marc Ingold. «Wir könnten die Menge der geretteten Lebensmittel aus dem Detailhandel verdrei- oder sogar vervierfachen. Dazu brauchen wir allerdings mehr finanzielle Unterstützung seitens der Händler.»
«Nachhaltige Finanzierungslösung» gesucht
Die Organisationen finanzieren sich in erster Linie mit Zuwendungen von Privaten. Mit den Detailhändlern gibt es Mehrjahresverträge, die finanzielle Entschädigungen festlegen.
Die Politik sieht ebenfalls Handlungsbedarf. Ein vom Nationalrat angenommenes Postulat der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur fordert vom Detailhandel «eine nachhaltige Finanzierungslösung für die Abgabe von Lebensmitteln durch Wohltätigkeitsorganisationen». Diesen Organisationen fehle es an finanziellen Mitteln.
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«Die Detailhändler geben die Lebensmittel zwar kostenlos ab. Sie tragen aber nicht nachhaltig zur Finanzierung der Bewirtschaftung dieser unverkauften Waren bei», sagt die grünliberale Waadtländer Nationalrätin Céline Weber.
Nur 7 Prozent der unverkauften Lebensmittel können laut einem Bericht des Bundesrats von Spendenorganisationen gerettet werden. «Das ist viel zu wenig», sagt Weber.
Nur ein Teil der Filialen ist abgedeckt
Ein Knackpunkt ist, dass nicht alle Filialen der Detailhändler bei der Abgabe von Esswaren mitmachen. Auch das hat laut Marc Ingold von der Schweizer Tafel finanzielle Gründe. Um mehr Supermarktfilialen abzudecken, brauche es mehr Geld zur Finanzierung der Infrastruktur.
Claudio Beretta sieht die Schweizer Platzhirsche Migros und Coop in der Pflicht. «Die Grossverteiler müssten zusätzliches Geld in die Hand nehmen, um mehr ihrer Filialen ans Spendennetz anzuschliessen.» Laut Coop sind rund 80 Prozent seiner Filialen in das Spendensystem integriert. Die Migros führt dazu laut eigenen Angaben keine Statistik.
Die Logistik für Lebensmittelspenden ist aufwendig. Allein bei der Schweizer Tafel helfen über 200 Freiwillige und 35 Zivildienstleistende, Lebensmittel einzusammeln. Daneben beschäftigt die Stiftung 17 Festangestellte aus verschiedenen Fachgebieten und betreibt eine Flotte von 36 gekühlten Transportfahrzeugen. «Wir sehen uns nicht als Almosenempfänger. Wir bieten den Händlern mit unserer Logistik einen wertvollen Service», sagt Geschäftsführer Ingold.
Den Händlern bringen die Lebensmittelspenden noch andere Vorteile als die Auslagerung der Entsorgung. Sie können ihr Image aufpolieren. «Die Detailhändler nutzen Lebensmittelspenden auch als Marketinginstrument. Das können sie nur dank der Hilfe dieser Organisationen», sagt Umweltwissenschaftler Beretta.
Detailhändler haben sich verpflichtet, Food-Waste für das laufende Jahr einheitlich zu berechnen und auszuweisen.
Die Grossverteiler und Discounter betonen, neben der Zusammenarbeit mit Spendenorganisationen Food-Waste mit zahlreichen Massnahmen zu bekämpfen – von Rabatten kurz vor Ablaufdatum bis zum Einsatz der Smartphone-App «Too good to go». Man baue das Engagement laufend aus. Alle Händler wollen die Zahl der an Spendenorganisationen angeschlossenen Filialen steigern.
Und wie steht es mit einer Erhöhung der finanziellen Unterstützung der Spendenorganisationen aus? Laut Coop und Migros ist dies derzeit nicht geplant. Bei Denner hingegen wird «die Unterstützung laufend ausgebaut». Diese und andere Händler sprechen von «namhaften» oder «essenziellen» Beiträgen, die bereits an solche Organisationen gespendet werden.
Wie viel Prozent von den unverkauften Lebensmitteln statt als Spenden in der Biogasanlage oder im Abfall landen, kann oder will keiner der Händler sagen. Bald ist mit dieser Intransparenz Schluss. Die Schweizer Detailhändler haben sich in einem Aktionsplan des Bundes verpflichtet, den entstandenen Food-Waste für das laufende Jahr einheitlich zu berechnen und auszuweisen.
Bis 2030 sollen die Lebensmittelabfälle des Handels gemäss Aktionsplan im Vergleich zu 2017 um die Hälfte vermindert werden. Laut dem Bundesrat werden «Spenden an gemeinnützige Organisationen einen bedeutenden Beitrag an das Reduktionsziel leisten».
Ein wichtiger Faktor bei der Vermeidung von Food-Waste sind die Konsumentinnen und Konsumenten. Denn in den Haushalten fällt laut einer Studie der ETH mit 38 Prozent der Umweltbelastung der grösste Teil der Lebensmittelabfälle an. Der Handel verursacht mit 8 Prozent deutlich weniger Lebensmittelabfälle.
Allerdings haben die Händler einen Einfluss auf das Konsumverhalten. Lidl und Aldi vermerken auf Produkten neben dem Mindesthaltbarkeitsdatum einen Hinweis, dass sie oft länger geniessbar sind. Produkte wie Schokolade und Teigwaren sind meist auch ein Jahr nach Ablaufdatum noch einwandfrei.
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