Embryoforscher im Interview Künstliche Embryos gezüchtet – «Meisterleistung von enormer Tragweite»
Wissenschaftler schaffen einen menschlichen Keim, ohne Ei- oder Samenzellen zu verwenden. Können daraus Menschen erwachsen? Und darf man das überhaupt? Antworten von Michele Boiani.
Zuletzt wetteiferten zwei Teams darum, künstliche menschliche Embryonen allein aus Stammzellen zu erschaffen, ohne Ei- oder Samenzellen. Im Rennen: Forscherinnen und Forscher um Magdalena Zernicka-Goetz von der University of Cambridge und vom California Institute of Technology sowie das Team um Jacob Hanna vom Weizmann-Institut in Israel.
Nun haben beide Gruppen ihr Ziel erreicht, mit teils verschiedenen Verfahren. Die erzeugten Embryonen bezeichnen sie als «Modelle» für die Forschung: Sie würden 6 bis 14 Tage alten natürlichen Embryonen in einigen Aspekten ähneln, seien aber noch wenig differenziert, es seien keine Ansätze von Herz, Hirn oder anderen Organen zu erkennen.
Herr Boiani, was dachten Sie, als Sie von den Experimenten hörten?
Ich war begeistert – und überrascht. Beide Gruppen hatten ähnliche Versuche bereits mit Mausembryonen gemacht. Und mit einem Mal finden diese Experimente mit menschlichen Zellen statt. Das ist eine andere Qualität. Das war zu erwarten, aber ich hätte mir gedacht, dass es länger dauert.
Warum?
Bei Mäusen ist die Methode sehr gut etabliert, beiden Gruppen war es bereits gelungen, aus pluripotenten Stammzellen – das sind solche, die sich in verschiedene Gewebetypen verwandeln können – Mausembryonen zu erschaffen und diese über eine Dauer im Labor wachsen zu lassen, die in vivo etwa acht Tagen entspricht. Die Trächtigkeit bei Mäusen dauert normalerweise gut 19 Tage. Menschliche Embryonen sind aber viel komplexer. Der Methodenteil dieser Fachartikel ist auch so komplex, damit muss ich mich Tage beschäftigen, um alles zu verstehen.
Was macht die Arbeiten so bemerkenswert?
Wenn man Embryonen von Säugetieren und sogar von Menschen ohne Geschlechtszellen erschaffen kann, dann ist eine biologische Meisterleistung von enormer Tragweite vollbracht worden, die asexuelle Reproduktion. Noch ist in diesen Kreationen aus menschlichen Zellen keine Organentwicklung zu erkennen, aber das ist sicher nur eine Frage der Zeit. Hannas Gruppe hat Nährmedium, in dem die Embryonen lagen, auf einen normalen Schwangerschaftstest geträufelt – und der schlug an.
Beide Gruppen sprechen von «Modellen», nützlich für entwicklungsbiologische Fragen, vielleicht auch einmal für die regenerative oder die Fortpflanzungsmedizin.
Ich halte den Begriff «Modell» bei diesen Embryoiden für eine Untertreibung.
«Wenn wir von Embryo reden, reden wir traditionell von einem Wesen, das aus Geschlechtszellen, also Spermien und Eizellen, entstanden ist.»
Was meinen Sie mit Embryoiden?
Wenn wir von Embryo reden, reden wir traditionell von einem Wesen, das aus Geschlechtszellen, also Spermien und Eizellen, entstanden ist. Embryoide werden aus Stammzellen künstlich erschaffen. Die Herkunft ist also eine andere.
Sie sehen darin mehr als ein Modell?
Es hängt davon ab, was diese künstlichen Embryonen können. Meiner Meinung nach müssten sie entwicklungsfähig sein, um als Modell zu taugen, aber dann sind es keine Modelle mehr, sondern Embryonen. Oder sie können es nicht, dann taugen sie aber auch nicht als Modelle.
Entwicklungsfähig?
Für mich ist nicht klar, ob diese Embryoide wirklich kein Potenzial haben, sich zu einem ganzen Organismus zu entwickeln, ob es wirklich im Labor ab einer gewissen Entwicklungsstufe nicht weitergeht oder doch weitergehen könnte, zumindest in äusserst seltenen Fällen.
Beide Teams erklären, dass sich aus diesen Strukturen derzeit keine Föten entwickeln könnten.
Wir müssen Mäuse- und menschliche Embryoide unterscheiden. Was die Mäuse betrifft, bin ich fest davon überzeugt, dass sie bereits keine Modelle mehr sind. Wenn man sich die Bilder älterer Veröffentlichungen von Hanna und Zernicka-Goetz anschaut, mit den Anlagen vom Gehirn, vom Anfang eines Herzens – das ist schon fast der halbe Weg zum Fötus. Natürlich muss man dazu sagen, dass die Erfolgsrate äusserst niedrig ist. Dabei ist es mit Mausembryonen vergleichsweise einfach, weil sie so viel kleiner sind als menschliche Embryonen. Die kleinen Strukturen werden im Labor allein durch Diffusion durchs Gewebe mit Nährstoffen versorgt, das würde bei grösseren, menschlichen Embryos nicht funktionieren. Trotzdem ist nicht klar, ob menschliche Zellen dieses Potenzial nicht auch haben.
Wie lässt sich das herausfinden?
Man müsste junge Embryoide in eine Gebärmutter verpflanzen. Aber das ist eine rote Linie, zumindest bei Menschen.
Dann wird es schwierig, die Frage zu klären.
Das können wir nur in Tierversuchen – und dann Rückschlüsse auf den Menschen ziehen.
Von 18 Tagen Trächtigkeit bei Mäusen auf mehr als neun Monate bei Menschen?
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir noch fortgeschrittene Föten aus Stammzellen sehen werden. Ich weiss nicht, ob es zwei oder fünf oder mehr Jahre dauert, aber ich erwarte das. Am Ende könnten sogar Mäusebabys aus stammzellbasierten Embryonen stehen. Um auf die Definition von Embryonen zurückzukommen: Wären die keine Mäuse, nur weil sie nicht aus Eizelle und Sperma entstanden sind?
«Wenn es bei Mäusen gegeben ist, warum sollte es bei Menschen grundsätzlich anders sein?»
Nicht alles lässt sich auf Menschen übertragen.
Beim Menschen reden wir über das Potenzial der Zellen und noch lange nicht über technische Möglichkeiten. Aber wenn es bei Mäusen gegeben ist, warum sollte es bei Menschen grundsätzlich anders sein?
Warum sollten denn die Teams ihre Kreaturen nur als Modell darstellen wollen, wenn Potenzial zu mehr da ist?
Weil sonst diese Forschung verboten werden könnte. In vielen Ländern, auch in der Schweiz, gilt als Embryo, was von Spermien und Eizellen abgeleitet wurde, und wird besonders geschützt. Als reinen Modellen steht den kreierten Strukturen dieser besondere Schutz derzeit nicht zu. In vielen Ländern gilt ausserdem für das Arbeiten mit menschlichen Embryonen die Regel, dass die Embryonen nicht länger als 14 Tage im Labor wachsen dürfen. Bei einer Schwangerschaft hat sich der menschliche Embryo am vierzehnten Tag bereits in der Gebärmutter eingenistet. Wer die Entwicklung darüber hinaus studieren wollte, musste bisher auf Tiermodelle ausweichen.
Mit menschlichen Embryomodellen müsste man sich nicht an die 14-Tage-Regel halten?
Vermutlich nicht, wenn sie künstlich aus im Labor erzeugten Stammzellen gezüchtet werden. Dazu kommt, dass es sich bei diesen Embryoiden – solange sie von einer einzigen Stammzelllinie stammen – um Klone handelt von den Menschen, deren Zellen verwendet wurden, um diese Stammzelllinie zu gewinnen. Mit dem Begriff «Klon» macht man sich nicht gerade beliebt in der Öffentlichkeit.
Sie sehen eine mögliche Renaissance des Klonens?
Das kommt nicht gut an, aber: ja. Vor 20 Jahren waren wir uns einig, dass wir keine menschlichen Klone wollen. Das Klonen von Menschen durch Transfer von Zellkernen in präparierte Eizellen wurde verboten. Aber nun kann ich pluripotente Stammzellen von einem Menschen generieren und Embryoide daraus erschaffen. Das wirft ja noch mehr ethische Fragen auf als das Klonen durch Kerntransplantation, weil man keine Eizellen mehr braucht. 1996 war das Klonschaf Dolly eine Sensation; mittlerweile wurden 25 Säugetierarten geklont, und das ist ein Geschäft. So schnell ist die Entwicklung.
Könnten Sie solche Experimente auch in Deutschland machen?
So wie ich die Regelungen des Embryonenschutzgesetzes und des Stammzellgesetzes verstehe, spricht rechtlich nichts dagegen. Nur, für mich ist es eine ethische Frage. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe kein Problem mit der Forschung, ich bin von den Arbeiten begeistert. Ich habe nur ein Problem mit dem Begriff Embryomodell. Es könnte ja sein, dass diese Embryoide – vielleicht nicht beim aktuellen Stand der Forschung, aber in ein paar Jahren – ihr Entwicklungspotenzial entfalten und über diese Strukturen hinausgehen.
Das Potenzial betrachten Sie als schützenswert, auch wenn es noch lange keinen technischen Weg gibt, dass aus diesen Gebilden ganze Menschen erwachsen?
So schützen wir auch Embryonen, die zum Beispiel übrig geblieben sind von Kinderwunschbehandlungen; also wäre es meiner Ansicht nach logisch, den Schutz auch auf künstlich erzeugte Embryonen anzuwenden.
Sind Sie für den absoluten Schutz des Embryos?
Was die Grundlagenforschung betrifft, geht mir die Gesetzgebung in Deutschland derzeit zu weit. Embryonen, die noch nicht so weit entwickelt sind, dass sie sich in einer Gebärmutter einnisten können, haben keine Fähigkeit zu leiden. Als Tierforscher arbeite ich mit Mäusen, die leidensfähiger sind als ein früher menschlicher Embryo, der ja gar kein Nervensystem hat. Nach meiner Auffassung verdient ein Individuum Schutz, und dieses Stadium ist erreicht, wenn der Embryo etwa zwei Wochen nach der Befruchtung die Phase der Gastrulation erreicht. Also wenn sich die Keimblätter und die neuronalen Falten bilden. Dann gibt es keine Frage, das ist ein Individuum. Das ist für mich eine logische Überlegung, ich bin nicht religiös. Ich rede einfach nur aufgrund der Biologie. Wenn die Funktion gegeben ist, dann muss ich die Sache beim richtigen Namen nennen.
Wie müssten die Gesetze angepasst werden?
Wenn eine biologische Struktur entwicklungsfähig ist, dann müssen wir uns unabhängig davon, wie sie entstanden ist, die Frage stellen: Ist es vielleicht ein Embryo? Ich rede als Biologe von Funktionen, nicht von Herkunft. Im deutschen Embryonenschutzgesetz (wie auch im Schweizer Stammzellenforschungsgesetz, die Red.) geht es bislang primär um Herkunft, weniger um Funktion. Aber mittlerweile ist die Forschung so fortgeschritten, dass wir diese entwicklungsfähigen Strukturen auch mit Stammzellen schaffen können. Die Definition muss also angepasst werden. Aber das ist meine persönliche Meinung, ich rede nicht als Vertreter von der Max-Planck-Gesellschaft.
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