Forschung am Embryo Dem Geheimnis der dritten Woche auf der Spur
Warum enden so viele Schwangerschaften früh? Um das Rätsel zu klären, dürfen Forscher Embryonen neu länger aufbewahren. Doch die Regel wirft ethische Fragen auf.
Fehlgeburten sind häufig. Bis zu einem Drittel aller Schwangerschaften geht früh verloren. Manchmal so früh, dass die Frauen es nicht einmal merken. In ungefähr der Hälfte der Fälle wussten sie jedoch schon von der Schwangerschaft, und so enden 10 bis 15 Prozent aller bestätigten Schwangerschaften für die werdenden Eltern mit Schmerz und Unsicherheit. Denn häufig lässt sich nicht klären, warum sich das Kind nicht weiterentwickelt hat.
Von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, fiel Ende Mai ein Entscheid, der manche Punkte klären könnte und gleichzeitig viele ethische Fragen aufwirft. Die Internationale Gesellschaft für Stammzellforschung (ISSCR) hat ihre Richtlinien zur Forschung mit menschlichen Embryonen geändert. Bisher galt für alle Forschenden auf diesem Gebiet ein weltweites Verbot, menschliche Embryonen im Labor länger als 14 Tage reifen zu lassen. Nun soll es in ausgewählten Fällen möglich sein, diese Grenze erstmals zu überschreiten.
Noch weiss man nur wenig darüber, was in der dritten Woche der menschlichen Entwicklung genau geschieht. Der Ultraschall eignet sich in diesem frühen Stadium nicht, um das Geheimnis zu lüften. Gewisse Dinge kann man aus Tiermodellen ableiten. Und deshalb weiss man heute schon: Die dritte Woche ist entscheidend. Es ist vermutlich genau jener Zeitabschnitt, in dem die Weichen für eine erfolgreiche Schwangerschaft gestellt werden. Auch Fehlbildungen nehmen vermutlich dann schon ihren Anfang. «Um zu verstehen, warum viele Frühaborte geschehen, wäre es wichtig, mehr über diese dritte Woche zu erfahren», sagt Lukas Sommer, Professor und Stammzellexperte an der Universität Zürich.
12’500 Embryonen blieben 2019 von IVF-Behandlungen übrig
Nach der Befruchtung der Eizelle dauert es eine knappe Woche bis zur Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut. Nachdem sich in der zweiten Woche Vorstufen der Plazenta und der Fruchtblase bilden, setzen in ebendieser dritten Woche wichtige Prozesse ein. Die Körperachse entsteht, und erste Anlagen für alle Organe und Körperteile entwickeln sich. Vor allem die Steuerung dieser Prozesse ist noch weitgehend unerforscht. Erkenntnisse in diesem Bereich könnten auch neue Behandlungsansätze für Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Erwachsenenalter anstossen.
Es gibt bislang erst wenige Labore weltweit, die Embryonen bis zum 14. Tag reifen lassen können. In vielen Ländern – wie auch der Schweiz – ist die Forschung an Embryonen grundsätzlich verboten. «Wichtig ist es, zu betonen, dass Embryonen nicht einfach zu Forschungszwecken geschaffen werden dürfen», sagt Sommer. Die Forscherteams – in den USA oder Grossbritannien – arbeiten mit Embryonen, die bei In-vitro-Fertilisationen (IVF) übrig geblieben sind. Auch in der Schweiz gibt es davon jedes Jahr sehr viele. Sie werden, wenn die IVF-Behandlungen abgeschlossen sind, vernichtet, im Jahr 2019 waren das beispielsweise 12’500 Embryonen.
«Es ist wichtig, dass wir zu diesen Themen eine gesellschaftliche Debatte führen», sagt Alessandro Blasimme, Forscher an der Professur für Bioethik der ETH Zürich. Selbst wenn diese Experimente in der Schweiz juristisch noch nicht möglich seien, ginge der wissenschaftliche Fortschritt schnell voran. Als die 14-Tage-Regel vor mehr als 40 Jahren festgeschrieben wurde, war niemand in der Lage, Embryonen überhaupt eine Woche am Leben zu halten. Heute ist das anders.
Neue Erkenntnisse über Krebs könnten gewonnen werden
Auch die deutsche Nationale Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) hat im Mai eine Stellungnahme zur Forschung an Embryonen veröffentlicht. Man solle diese Forschung in Zukunft in Deutschland für «hochrangige Forschungsziele» ermöglichen: «Viele wissenschaftliche Fragen zur Embryonalentwicklung, Krankheitsentstehung, Fortpflanzungsmedizin oder zu Anwendungen von embryonalen Stammzellen für regenerative und personalisierte Therapien lassen sich nur durch Forschung mit frühen menschlichen Embryonen beantworten», schreiben die Autoren.
Ganz zufällig sei die 14-Tage-Grenze damals nicht gewählt worden, sagt Blasimme. In der dritten und vor allem der vierten Woche entstünden Ansätze des neuronalen Systems. Frühestens dann könnte man im philosophischen Sinn von einem Individuum sprechen. Auch sei die mögliche Teilung von Zwillingen dann schon geschehen, was ein weiteres Kriterium für eine individuelle Entwicklung sei.
Möglich ist in der Schweiz schon heute die Forschung mit pluripotenten Stammzellen eines Embryos – das sind Zellen aus einem so frühen Stadium der Entwicklung, dass sich aus ihnen noch jede Körperzelle bilden kann. Geregelt ist diese Forschung im Stammzellenforschungsgesetz (StFG). «Wenn wir beobachten, wie diese Stammzellen arbeiten, gewinnen wir beispielsweise auch wichtige Erkenntnisse über die Entstehung von Krebs», sagt Sommer, der sich mit seinem Team genau mit diesen Fragen beschäftigt.
Um nicht mit Embryonen zu arbeiten, haben viele Forscherteams weltweit begonnen, auf embryonale Modellorganismen auszuweichen – also Ansammlungen von Stammzellen. Auch sie können sich in gewissem Mass weiterentwickeln, allerdings nicht zu einem lebensfähigen Embryo. «Um zu verstehen, wie gut diese Modelle sind, brauchen wir Antworten aus der Embryonenforschung», sagt Stammzellexperte Sommer. Und auch hier gibt es – je ausgefeilter die Modelle werden – Diskussionen, wie man diesen Bereich reglementieren könnte oder müsste.
Niemand möchte die Grenze weit hinausschieben
Eine der weltweit führenden Forscherinnen auf dem Gebiet der Embryonenforschung ist die britisch-polnische Entwicklungsbiologin Magdalena Zernicka-Goetz, die an der Universität Cambridge und dem California Institute for Technology forscht. Sie veröffentlichte im Juni im Fachmagazin «Nature» eine grosse Studie zur frühen embryonalen Entwicklung. Dabei studierte ihr Team vor allem die Tage fünf bis elf und ging der Frage nach, welche Gene die Prozesse steuern, wenn aus einer Stammzelle, die alles kann, eine Stammzelle mit spezifischerer Funktion wird. Wenn man diese Vorgänge besser versteht, soll auch dies neue Erkenntnisse nicht nur in der Fortpflanzungsmedizin, sondern auch für Krebserkrankungen bringen.
«In der Gesellschaft liegen die ethischen Positionen in der Debatte, ob man überhaupt an menschlichen Embryonen forschen darf, weit auseinander», sagt Blasimme. Es ist ein emotional aufgeladenes Thema. Manche Menschen lehnen jegliche Forschung auf diesem Gebiet ab, weil es die Würde des menschlichen Lebens verletze. Andere argumentieren dagegen, dass die verwendeten Embryonen sich sowieso nicht weiterentwickeln würden. Und dass Abtreibungen in einem sehr viel späteren Entwicklungsstadium auch noch möglich seien. Der Vergleich mit den Abtreibungen hinkt allerdings etwas, weil es in diesen Debatten auch noch um andere Themen geht, wie das zukünftige Kindeswohl und das Recht der Frauen, über ihren Körper zu bestimmen.
«Ich finde, die Embryonenforschung sollte nicht grundsätzlich verboten sein, aber ich würde die Grenze nicht weit über die 14 Tage hinausschieben», sagt Blasimme. Einig sind sich alle Forscher und Forscherinnen, dass es auch nach Aufweichung der 14-Tage-Regel strenge Vorschriften für alle Studien auf diesem Gebiet geben sollte. Und dass die Grenze nicht weit hinausgeschoben werden darf. Niemand möchte bis zum Herzschlag gehen, der ab der sechsten Woche möglich ist. Und nach acht Wochen sind im Embryo bereits alle wichtigen Organe angelegt. Auch wenn er erst drei Zentimeter gross ist.
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