Gastbeitrag zur KlimakriseDie Antwort auf das Klimaurteil, die jetzt nötig ist
Der Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz gerügt. Der Bundesrat muss nun zeigen, dass er seine klimapolitische Verantwortung erkennt.

Die Klimaerhitzung bedroht die Menschen existenziell. Eine neue Berechnung der Auswirkungen einer Erwärmung von weltweit 1,5 auf 2,0 Grad zeigt nicht nur auf, dass Afrika vom absoluten Hitzestress am stärksten betroffen sein wird. Die relativen Hitzetage nehmen überdies besonders in Europa zu. Das mag erstaunen. Die Schweiz erscheint sogar an der Spitze der Länderliste.
Es braucht nun ein entschlossenes und international koordiniertes staatliches Handeln. Alle gesellschaftlichen Akteure müssen mitmachen. Ohne das kann eine Reduktion der Treibhausemissionen nicht gelingen.
In einem wegweisenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im April festgestellt, dass die Schweiz bisher zu wenig zum Klimaschutz unternimmt. Dadurch verletzt sie Menschenrechte. Der Verein Klimaseniorinnen hatte sich vorher an das Bundesgericht gewandt. Die Klage wurde aber nicht zugelassen. In einem etwas seltsamen Vorgang wies im Juni eine Mehrheit des Parlaments das Urteil des EGMR einfach zurück. Statt auf die Gründe einzugehen, bezichtigte das Schweizer Parlament den Gerichtshof eines «gerichtlichen Aktivismus». Nun ist eine Antwort des Bundesrats zu erwarten.
Woran wird diese Antwort zu messen sein?
Das Wichtigste ist, dass der Staat seine Verantwortung im Klimaschutz erkennt. Der Staat muss nicht nur festlegen, bis wann die Schweiz auf netto null CO2-Emissionen kommen will. Er muss auch zeigen, dass die Emissionen, die die Schweiz bis dahin verursachen wird, einen international fair abgestimmten Anteil des noch verbleibenden Kohlenstoffbudgets nicht überschreiten.
Der Bund muss Ziele setzen, Regeln verändern, Massnahmen ergreifen und Vertrauen schaffen. Das sind Staatsaufgaben. Aber vor allem: Er muss die gesellschaftlichen Akteure zur Zusammenarbeit motivieren.
Das Klima wird zurückschlagen
Die Schweiz hat kein Verfassungsgericht, das die staatlichen Handlungen (und Nicht-Handlungen) im Hinblick auf die Grundrechte überprüft. Darum ist das Urteil des EGMR wichtig. Es stärkt die Menschenrechte und legt den Finger auf die Unterlassung staatlicher Massnahmen zum Schutz der von der Erhitzung am meisten betroffenen Menschen.
Falls die Schweiz das Urteil ignoriert, kann sie vom Europäischen Gerichtshof nicht bestraft werden. «Blame and shame» würde sie allerdings unweigerlich davontragen – als reichstes Land Europas. Es ist aber das Klima, das zurückschlägt, am heftigsten in den empfindlichen Regionen der Erde. Als Folge der Untätigkeit wird die Destabilisierung des Klimas voranschreiten.
Die Schweiz hat am 15. März klimapolitische Massnahmen bis 2030 beschlossen. Das ist gut, sie muss aber wesentlich mehr tun. Mit dem EGMR-Urteil zusammen kann der Bundesrat der Bevölkerung besser erklären, weshalb wirkungsvoller Klimaschutz notwendig ist. Er muss dafür Mehrheiten gewinnen. Es hilft nicht, auf ein Wunder zu hoffen.
Christoph Rehmann-Sutter ist Professor für Theorie und Ethik der Biowissenschaften an der Universität zu Lübeck sowie Titularprofessor für Philosophie an der Universität Basel. Er war von 2001 bis 2008 Präsident der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin.
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