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«Neues Menschenrecht geschaffen»
Auch der Nationalrat protestiert gegen das Klima-Urteil – nach aufgeregter Debatte

Philipp Matthias Bregy, Mitte-VS, spricht fuer die Rechtskommission zum Urteil des Urteil des Europaeischen Gerichtshofs fuer Menschenrechte, EGMR in Sachen KlimaSeniorinnen Schweiz vs Schweiz, an der Sommersession der Eidgenoessischen Raete, am Mittwoch, 12. Juni 2024 im Nationalrat in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)
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Die Schweiz tue nicht genug, um ihre Bürgerinnen und Bürger vor dem Klimawandel zu schützen: Zu diesem Schluss kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Direkte Folgen hat das Urteil nicht. Der Bundesrat wird dem Ministerkomitee des Europarats aber berichten müssen, was die Schweiz unternommen hat.

Geht es nach dem Parlament, soll der Bundesrat dem Komitee aber vor allem eines mitteilen: Dass die Schweiz keinen Anlass sieht, dem Urteil weitere Folge zu geben. Der Bundesrat soll erklären, die Anforderungen seien bereits erfüllt, da die Schweiz in der Zwischenzeit weitere Klimamassnahmen beschlossen habe.

Der Ständerat hatte vor einer Woche beschlossen, den Bundesrat dazu aufzufordern. Am Mittwoch hat nun der Nationalrat einer gleichlautenden Erklärung zugestimmt – mit 111 zu 72 Stimmen bei 10 Enthaltungen. Seine Rechtskommission argumentierte, mit gleichlautenden Erklärungen setzten die Räte «ein starkes politisches Zeichen». 

Kommissionssprecher Philipp Bregy (Mitte) sagte, die Formulierung «keine weitere Folge» bedeute, dass die Schweiz bereits Folge gegeben habe. «Das schliesst nicht aus, dass die Schweiz freiwillig weitere Massnahmen ergreifen kann.» Der EGMR habe gewissermassen ein neues Menschenrecht geschaffen, kritisierte Bregy, ein Menschenrecht auf gesunde Umwelt. Damit habe er sich weit vom Wortlaut und von der Intention der Menschenrechtskonvention entfernt.

Selbst wenn es aber ein solches Menschenrecht gäbe, wäre dem Urteil keine weitere Folge zu geben. Die Schweiz habe die Verpflichtungen zwischenzeitlich nämlich längst erfüllt, namentlich mit dem neuen CO₂-Gesetz. Das Bundesamt für Umwelt habe das bestätigt.

Glaubwürdigkeit der Schweiz gefährdet

Für die Gegnerinnen und Gegner in der Rechtskommission sprach GLP-Nationalrat Beat Flach. «Ich bin überzeugt, dass weder Klimakleber noch Tomatensuppe auf Kunstwerken noch juristische Kniffe den Klimawandel stoppen werden», sagte er zu Beginn seines Votums. Wichtig seien demokratische Entscheide. In diese greife der EGMR aber nicht ein. Er lasse offen, welche Massnahmen die Schweiz ergreifen müsse.

Flach hob die Bedeutung des EGMR für den Schutz der Menschenrechte hervor. Die Schweiz habe sich verpflichtet, seine Urteile zu respektieren und umzusetzen. «Eine Nichtberücksichtigung – oder wie auch immer Sie das spitzfindig juristisch umschreiben wollen – entspricht dem nicht.» Die Erklärung schwäche die Gewaltenteilung. Und sie habe negative Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der Schweiz und des EGMR. Die Erklärung könnte andere Staaten ermutigen, EGMR-Urteile nicht zu beachten, was den Schutz der Menschenrechte schwächen würde.

«Klimapolitischen Musterschüler herausgepickt»

Die bürgerlichen Parteien sehen das freilich anders. SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann bezeichnete das Urteil als «inhaltlich falsch». Die Richter hätten «den klimapolitischen Musterschüler Schweiz herausgepickt» und wollten an ihm «ein Exempel statuieren». Das Urteil verletze auch die Gewaltenteilung. «Wenn internationale Richter glauben, sie müssten uns die Gesetzgebung diktieren, werden wir Parlamentarier zu Statisten degradiert.»

FDP-Vertreter Philippe Nantermod betonte, die FDP respektiere das internationale Recht und den Grundsatz, dass Verträge zu erfüllen seien. Aber die Richter müssten sich an den Text der Konvention halten. Mitte-Vertreterin Maya Bally stellte fest, man könne uneins sein, ob das Urteil gerechtfertigt sei oder nicht und ob die Schweiz genügend Klimamassnahmen ergriffen habe oder nicht. Was aber klar sei: In der Erklärung stehe nirgends, dass der Bundesrat gebeten werde, das Urteil zu ignorieren. Das seien «Fake News».

SP-Nationalrätin Min Li Marti wiederum warf die Frage auf, warum das Urteil derart für Aufregung gesorgt habe. Ihre Vermutung: «Es stört uns in unserem Selbstverständnis, dem helvetischen Exzeptionalismus. Wir sind pikiert.» Die Vertreterin der Grünen, Aline Trede, sprach von Stimmungsmache. «Wo ist Ihre Contenance geblieben?», fragte sie. Zu behaupten, die Schweiz erfülle die Anforderungen bereits, sei ein Hohn. Es widerspreche dem, was die Wissenschaft sage.

Ein bisschen zu heiss im Sommer

Den Voten folgten jeweils eine Reihe von Fragen. Die Grüne Sibel Arslan etwa erkundigte sich, wie lange sich die Rechtskommission überhaupt mit dem 300-Seiten-Urteil befasst habe. Bregy antwortete, er gehe davon aus, dass alle Kommissionsmitglieder das Urteil gelesen hätten. Er erntete Gelächter.

SVP-Nationalrat Michael Graber fragte, ob die Klimaseniorinnen nicht die Schweiz verhöhnten. Und das nur, weil sie im Sommer ein bisschen zu heiss hätten. Andere SVP-Vertreter wollten wissen, ob man nun in Strassburg auch dagegen klagen könne, dass die Schweiz die Masseneinwanderungsinitiative nicht umgesetzt habe. SP-Nationalrat Roger Nordmann wiederum richtete folgende Frage an den Rat: «Was ist wichtiger, der Klimaerwärmung vorzubeugen oder ein Urteil aus Strassburg zu kritisieren?»

Zu Wort gemeldet hat sich auch eine Gruppe von 29 Klimawissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Sie stellen die Erklärung aus wissenschaftlicher Sicht infrage – vor allem die Behauptung, dass die Schweiz ihre Klimaverpflichtungen einhalte. In einer am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme bezeichnen sie die Schweizer Klimapolitik als widersprüchlich.