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Meinung

Gastbeitrag zum Klimaurteil
Greift das Parlament in den Bereich der Justiz ein?

Die Klimaseniorinnen posieren fuer ein Protestfoto, damit die Parlamentarier das Recht respektieren nach der Generalversammlung der Klimarserniorinnen in Bern am Dienstag, 4. Juni 2024. (KEYSTONE/Gaetan Bally)
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Der Ständerat hat letzte Woche eine Erklärung verabschiedet, in der er zu Inhalt und Durchsetzung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Stellung nimmt. In der Erklärung werden Methode und Ergebnis der Rechtsfindung durch den EGMR scharf kritisiert, und es wird infrage gestellt, ob dem Urteil in der Schweiz Folge zu leisten sei. Der Hauptvorwurf, der in der Erklärung des Ständerats gegenüber Strassburg erhoben wird, lautet, das Gericht habe die Konvention falsch, zu dynamisch ausgelegt und es habe die bisherigen Massnahmen der Schweiz zum Schutz gegen Klimaerwärmung zu wenig gewürdigt.

Das gerügte Urteil stellt fest, die Schweiz habe den vom internationalen Recht geforderten Schutz gegen die zunehmende Klimaerwärmung zu wenig vorangetrieben und gefährde damit die Gesundheit der Bevölkerung. Dies bedeute eine Verletzung von Artikel 8 der Menschenrechtskonvention, der jeder Person ein Recht auf Schutz ihrer «Privatsphäre» garantiert. Gehört dazu auch der Schutz des Menschen vor Auswirkungen des Klimawandels?

Der EGMR betrachtet bereits in einer längeren Praxis das ökologische Umfeld als Teil dieses in Artikel 8 geschützten Raumes jeder Person. Diese Rechtsprechung ist im Wesentlichen unter den Europaratsstaaten unangefochten geblieben und darf somit als Auslegungselement der Konvention berücksichtigt werden. Der Ständerat sieht nun im Einbezug des Klimaschutzes in den Schutzbereich der privaten Lebenssphäre eine überzogene Interpretation der Konvention, das Gericht unterlaufe damit die demokratische Gesetzgebung der Schweiz.

Liegt eine Missachtung der Gewaltenteilung vor?

Die Erklärung des Ständerats richtet sich also gegen das rechtskräftige Urteil eines europäischen Gerichts, dessen Gerichtsbarkeit und dessen Urteile die Schweiz ausdrücklich als verbindlich anerkannt hat und im Wesentlichen bisher auch umgesetzt hat. Der Ständerat empfiehlt nun, dem Urteil keine weitere Folge zu geben. Dies wirft die staatsrechtliche Frage auf, ob die Aufforderung des Parlaments, einem gerichtlichen Urteil keine weitere Folge zu geben, nicht eine Missachtung des grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzips der Gewaltenteilung bedeute: nämlich einen Eingriff der Legislative in den Bereich der Rechtsanwendung, vor allem der Justiz.

Zuständig für die Durchsetzung von Urteilen des Strassburger Gerichts ist der Ministerrat des Europarats, in der Schweiz der Bundesrat, allenfalls das Bundesgericht, nicht aber das Parlament. Dieses ist ausserhalb des Gesetzgebungsverfahrens nicht befugt, in den Prozess der Rechtsanwendung einzugreifen und Modus oder Inhalt der Anwendung des Rechts im Einzelfall zu bestimmen.

Gewiss, die ausführliche Begründung des Strassburger Urteils ist zum Teil auch für Juristen und Juristinnen schwer verständlich. Das Gericht hat ein System der «Verbandsbeschwerde» geschaffen, wie es bisher im Recht der EMRK unbekannt war. Dank der neuen, man könnte auch sagen: kühnen neuen Regelung des Verfahrens konnte den Klimaseniorinnen jedoch erst der Zugang zum Gericht ermöglicht werden – und dies, ohne das Tor für eine grosse Flut von Beschwerden Klimabetroffener zu öffnen.

Jörg Paul Müller ist emeritierter Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Bern.