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Meinung

Leitartikel zum Klimaurteil
Willkommen in der Welt, liebe Schweiz

President of the European Court of Human Rights SÌofra O'Leary, center, speaks Tuesday, April 9, 2024 in Strasbourg, eastern France. Europe's highest human rights court will rule Tuesday on a group of landmark climate change cases aimed at forcing countries to meet international obligations to reduce greenhouse gas emissions. The European Court of Human Rights will hand down decisions in a trio of cases brought by a French mayor, six Portuguese youngsters and more than 2,000 elderly Swiss women who say their governments are not doing enough to combat climate change. (AP Photo/Jean-Francois Badias)
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Wer ist Andreas Zünd? Vor einer Woche noch hätte kaum jemand die Antwort gewusst. Jetzt wird der 67-jährige Jurist durch die Kommentarspalten rechtskonservativer Schweizer Medien geschleift: als Vaterlandsverräter und Undemokrat, weil er, Schweizer Vertreter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), ein umstrittenes Urteil mitträgt. Dieses lautet: Die Schweiz hat zu wenig gegen den Klimawandel getan. Der EGMR hiess am Dienstag eine Klage von Seniorinnen gut, die ihr Recht auf Privatleben – zu dem auch die körperliche Unversehrtheit gehört – durch ungenügende Schweizer Klimapolitik verletzt sehen.

Dem «fremden Richter» kommt im Schurkenkabinett der Schweizer Politik seit je eine herausgehobene Rolle zu. Umso schlimmer noch, wenn ein Einheimischer wie Zünd die Fremden unterstützt: «Austreten aus dem Europarat!», forderte die SVP prompt. Nicht ganz so weit gingen Mitte-Partei und FDP; gleichwohl übten viele ihrer Vertreterinnen und Vertreter heftige Kritik am Urteil des EGMR. Das Gericht, so der Tenor, masse sich an, selber Politik zu betreiben. Es ignoriere Entscheide des Schweizer Stimmvolks und schwäche damit die Akzeptanz notwendiger Klimamassnahmen.

Das Schweizer Richterbild

Die Kritik ist teilweise nachvollziehbar. Doch schwingt in vielen empörten Voten auch eine seltsame Engstirnigkeit mit: Es ist ein Diskurs, wie er so wohl nur in der Schweiz stattfinden kann. Hierzulande dominiert eine Vorstellung vom Richter, der Räuber hinter Gitter schickt und zwischen streitenden Hausnachbarn schlichtet – der sich aber tunlichst aus allen gesellschaftlichen Debatten heraushält. Entsprechend lautstark fällt das kollektive Wutschnauben aus, wenn etwa das Bundesgericht die Ausschaffungsinitiative der SVP abschwächt oder die Regeln zum Zweitwohnungsbau verschärft. Die Justiz, wird dekretiert, habe als politisch relevante Kraft nicht in Erscheinung zu treten.

Wie anders das im Ausland ist, zeigen zwei weitere brisante Urteile dieser Woche, beide aus den USA. Im Bundesstaat Arizona wird auf richterliches Geheiss ein uraltes Gesetz reaktiviert, das ein radikales Abtreibungsverbot vorsieht. Und in Michigan sind erstmals die Eltern eines Schülers, der in einem Amoklauf mehrere Menschen tötete, zu langen Haftstrafen verurteilt worden – auch dies ein Richterspruch mit eminent politischen Implikationen. Der Supreme Court in Washington, der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, zählt ohnehin zu den mächtigsten politischen Institutionen des Landes. Nicht umsonst hat Mitch McConnell, der gewiefte republikanische Machttaktiker im Senat, die Besetzung möglichst vieler offener Richterstellen im ganzen Land zu einer seiner Top-Prioritäten erklärt.

Man braucht nicht den Ozean zu überqueren. In vielen europäischen Ländern ist es ähnlich. In Deutschland zum Beispiel kassiert das Verfassungsgericht immer wieder Beschlüsse der Bundesregierung, weil sie mit dem Grundgesetz nicht konform sind. Und das wachsende Geflecht internationaler Vertragsbeziehungen bringt es mit sich, dass supranationale Gerichte gegenüber nationalen an Bedeutung zulegen. Das gilt nicht zuletzt für den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, dessen Rechtsprechung oft auch die Schweiz tangiert.

Nationalromantische Fantasien

In der Schweiz kennen wir kein Verfassungsgericht. Unser Misstrauen gegen die «Richter-Politik» mag sich teilweise daraus erklären. Es generiert leider aber auch wenig hilfreiche Abwehr- und Rückzugsreflexe. Exemplarisch zeigt sich das bei den Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen mit der EU: Dem Kampf gegen eine befürchtete Übergriffigkeit des Europäischen Gerichtshofs gilt die Hauptanstrengung der vereinigten Schweizer Politik. An diesen Ängsten könnten die Verhandlungen letztendlich scheitern.

Die SVP-Forderungen nach einem Austritt aus Europarat und EGMR passen ins Bild. Sie und überhaupt die Kritik an den «politisierenden Richtern» in Strassburg beflügeln die nationalromantischen Fantasien von einem Land, das sich von unerwünschten Entwicklungen abkoppelt, seine Bindungen an die Welt auf ein Minimum reduziert und seine Angelegenheiten autark regelt. Dabei wäre die gegenteilige Strategie erfolgversprechender. Wenn Institutionen, seien es Gerichte oder Parlamente, an Bedeutung gewinnen, sollten wir nicht vor ihnen fliehen, sondern unsere Position dort stärken. Sich einbringen statt jammern, das sollte die Devise sein.

Natürlich garantiert Präsenz in internationalen Gremien keinen Erfolg in jedem Einzelfall. Vor dem EGMR hat die offizielle Schweiz diesmal verloren (und eine Gruppe älterer Schweizerinnen dafür gewonnen). Der Schweizer Richter Zünd, zur Unparteilichkeit verpflichtet, hat dazu beigetragen. Am Grundsätzlichen ändert das nichts: Wir brauchen in Zukunft nicht weniger Andreas Zünds, sondern mehr davon.