Die andere KlimarügeAuch der Seegerichtshof fordert mehr Klimaschutz von der Schweiz
Die Staaten müssen mehr gegen den Klimawandel tun. Das sagt auch der internationale Seegerichtshof. Die Schweiz ist davon betroffen – obwohl sie ein Binnenland ist.
National- und Ständerat haben mit einer Protesterklärung auf das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) reagiert. Dieses wirft seit Wochen hohe Wellen. Gestritten wird über die Frage, ob Staaten die Menschenrechtskonvention verletzen, wenn sie sich zwar zu Klimazielen verpflichten, aber nicht genügend Massnahmen ergreifen, um diese zu erreichen.
Die EGMR-Richter sind zum Schluss gekommen, dass dem so ist – und haben die Schweiz gerügt. Sie tue nicht genug, um ihre Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Die Richter sehen ihr Urteil in der Tradition früherer Umwelturteile – etwa zugunsten von Anwohnern einer Fabrik, die giftige Gase ausstösst. Beim Klimawandel handle es sich um eine vergleichbare Bedrohung – zwar weniger unmittelbar, aber deswegen nicht kleiner, erklärte der Schweizer EGMR-Richter Andreas Zünd in Interviews.
Kritiker ziehen diese Argumentation in Zweifel. Der EGMR ist indes nicht das einzige internationale Gericht, das sich mit dem Klimawandel befasst hat und zum Schluss gekommen ist, die Staaten müssten mehr dagegen tun. Auch ein anderes Gericht hat jüngst so entschieden.
Untergehende Inselstaaten wollen Klarheit
Der Internationale Seegerichtshof in Hamburg musste die Frage beantworten, ob die Auswirkungen des Klimawandels auf die Meere eine Form von Umweltverschmutzung darstellen. Eine Gruppe von Inselstaaten, die durch den steigenden Meeresspiegel vom Untergang bedroht sind, war an ihn gelangt und hatte um ein Gutachten gebeten.
Für gewöhnlich fällt der Seegerichtshof Urteile bei Streitigkeiten zwischen Staaten, die deren Rechte und Pflichten aus dem UNO-Seerechtsübereinkommen betreffen. Er legt Seegrenzen fest – wie jene zwischen Bangladesh und Myanmar. Oder er wird angerufen, wenn ein Staat das Schiff eines anderen Staates festsetzt. So entschied der Seegerichtshof 2019 auf Ersuchen der Schweiz, dass der Tanker «San Padre Pio», der unter Schweizer Flagge fuhr und für mehr als ein Jahr von Nigeria festgehalten wurde, freigesetzt werden müsse.
Weil das Seerechtsübereinkommen den Schutz der Meere und deren Lebewesen thematisiert, urteilte das Gericht auch über einen Konflikt zwischen Australien und Japan zum Schutz des Blauflossen-Thunfischs. Aber ein Gutachten zum Klimawandel? Indien und China monierten, das sei nicht Aufgabe des internationalen Seegerichtshofs.
Dieser erklärte sich jedoch für zuständig. Er könne nicht nur konkrete Streitigkeiten durch Urteile entscheiden, sondern auch Gutachten zu wichtigen Fragen des Seerechts abgeben, wenn er darum ersucht werde. Und für die Richter war der Fall klar: Im Gutachten hielten sie fest, der Ausstoss von Treibhausgasen trage zur Erd- und Meereserwärmung bei und stelle deshalb eine Verschmutzung der Meere im Sinne des UNO-Seerechtsübereinkommens dar. Die Vertragsstaaten – darunter auch die Schweiz – seien verpflichtet, geeignete Massnahmen zu ergreifen, um die Meere vor den Auswirkungen des Klimawandels zu schützen.
Schweiz besonders betroffen
Das Gutachten hat keine direkten Folgen. Anders als im Fall des EGMR muss der Bundesrat auch nicht darlegen, was er nun zu tun gedenkt. Das mag ein Grund dafür sein, dass die Schweiz auf diesen Entscheid gelassener reagierte. Der andere Grund: Die Schweiz ist ein Binnenland. Die Meere – so könnte man denken – gehen das Land nichts an.
Laut Anna Petrig, Völkerrechtsprofessorin an der Universität Basel, ist das allerdings ein Irrtum. Die Schweiz sei sogar besonders betroffen, sagt die Spezialistin für Seevölkerrecht. Der Grund: Mit dem Unternehmen MSC hat die weltweit grösste Schifffahrtsgesellschaft ihren Sitz in der Schweiz.
Das Unternehmen betreibt sowohl Kreuzfahrt- als auch Containerschiffe – mit hohem Ausstoss von Treibhausgasen. Zwar gelten für Schiffe die Vorschriften jenes Landes, unter dessen Flagge sie fahren, und nur wenige fahren unter der Schweizer Flagge. Das Gutachten könnte jedoch zur Annahme neuer internationaler Standards führen, sagt Petrig. Auch für künftige Entscheide von Gerichten und die Gestaltung der Politik könnte es durchaus wichtig sein. Inselstaaten wie Tuvalu hoffen darauf: Sie feiern das Gutachten als grossen Erfolg.
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