Schlupfloch im Pariser AbkommenWie Regierungen Waldflächen nutzen, um bei den Klimazielen zu mogeln
An der Konferenz in Baku verhandeln Regierungen um einen ambitionierten Klimaschutz. Doch ein Forschungsteam entdeckt eine folgenschwere Schwäche im Klimavertrag.
- Das Pariser Klimaabkommen hat Schwächen bei der Umsetzung der jährlichen Bilanzierung der Treibhausgase.
- Die Regeln für die Bilanzierung entsprechen nicht den vorgegebenen wissenschaftlichen Methoden.
- Die globale Erwärmung kann nicht gestoppt werden, solange sich viele Staaten bei der Bilanzierungsmethode auf natürliche Senken wie Wälder verlassen, zeigt eine neue Studie. Das Pariser Abkommen gibt hier keine Regeln vor.
- Es ist zu befürchten, dass viele Länder dieses Schlupfloch nutzen, um weniger CO₂-Emissionen reduzieren zu müssen.
Der Aufruf an die Regierungen, noch ehrgeiziger im Klimaschutz zu werden, gehört seit Jahren zum Ritual einer Klimakonferenz. Das ist auch nicht anders in diesem Jahr in Baku. Für den Chef des UN-Klimasekretariats Simon Stiell sind die nationalen Klimapläne die «wichtigsten politischen Dokumente dieses Jahrhunderts». Sie geben den Kurs vor, ob sich der Mensch bis Mitte des Jahrhunderts vom fossilen Zeitalter verabschieden kann. Bis jetzt sind die Vertragsstaaten alles andere als auf Kurs.
Nun platzt in dieses Antreiben der Vertragsstaaten des Pariser Klimaabkommens eine Studie, die zusätzlich zu denken gibt. Ein internationales Forschungsteam warnt davor, dass viele nationale Klimapläne nicht einhalten, was sie versprechen.
Es geht dabei um das langfristige Ziel des Klimavertrages, dass die Welt bis 2050 bei netto null sein muss, damit die Erderwärmung die Erwärmungsgrenze von 1,5 Grad nicht überschreitet. Netto null bedeutet: Ein Staat darf nicht mehr Treibhausgase produzieren, als er durch technische oder natürliche Massnahmen der Atmosphäre wieder entziehen und dauerhaft speichern kann.
Damit der Fortschritt überprüfbar wird, erstellt jeder Vertragsstaat jährlich ein sogenanntes Treibhausgasinventar. Hier wird aufgezeigt, wie viel das Land an Treibhausgasen produziert und wie viel CO₂ der Atmosphäre durch eine Veränderung der Landnutzung entzogen wird, also durch sogenannte CO₂-Senken. Es geht dabei vor allem um Wälder. Sie nutzen das Treibhausgas für ihr Wachstum.
Schwäche des Klimaabkommens
Doch genau hier liegt die Schwäche in der Umsetzung des Pariser Abkommens. Die jährliche Bilanzierungsmethode für das Treibhausgasinventar entspricht nicht den wissenschaftlichen Methoden, die ein internationales Forschungsteam vor fünfzehn Jahren entwickelt hat und die der Weltklimarat IPCC heute verwendet, um den Fortschritt in Richtung netto null zu verfolgen. Nun zeigt die Forschungsgruppe von damals unter der Leitung des Departements Physik der Universität Oxford im eben veröffentlichten Bericht im Fachmagazin «Nature», dass die globale Erwärmung nicht gestoppt wird, solange sich viele Staaten bei der Bilanzierungsmethode auf natürliche Senken verlassen.
Die Sache ist im Grunde einfach: Es geht um eine präzise Definition der CO₂-Senken. Und genau diese fehlt im Regelwerk zur Umsetzung des Pariser Klimaabkommens. Konkret geht es um den Unterschied zwischen einer anthropogenen Senke, für die der Mensch verantwortlich ist, und natürlicher Senken.
Grundsätzlich gelten als menschliche Aktivität alle Massnahmen, die CO₂ aus der Atmosphäre entfernen und dauerhaft speichern. Das können Aufforstungen sein, Wiedervernässungen ausgetrockneter Moore oder technische Verfahren, die CO₂ aus der Atmosphäre filtern und im Untergrund speichern.
Zu den natürlichen Senken gehören die Vegetation auf dem Land und die Ozeane. Sie speichern Jahr für Jahr 50 Prozent der Emissionen, die der Mensch durch die Verbrennung von Kohle, Erdgas und Erdöl in die Atmosphäre entlässt – kostenlos, ohne dass der Mensch dafür etwas tut. Wälder wachsen zusätzlich durch die erhöhte CO₂-Konzentration. Diese «CO₂-Düngung» gehört jedoch wissenschaftlich betrachtet zum natürlichen Kohlenstoffkreislauf.
Und das ist der Punkt: Die Autoren der neuen Studie fordern, dass die Unterscheidung zwischen anthropogener und natürlicher Senke in den Treibhausgasinventaren dringend gemacht werden muss, wie das vor fünfzehn Jahren für die Berechnung des Netto-null-Pfades gemacht wurde. ETH-Klimaforscher Reto Knutti, der an der Studie beteiligt war, gibt ein Beispiel: «Wenn man einen neuen Wald pflanzt, wo früher ein Acker war, wird aktiv zusätzlich CO₂ gebunden. Das kann man anrechnen, das ist wissenschaftlich korrekt.»
Einen Grenzbereich gibt es jedoch, wenn ein bestehender natürlicher Wald eingezäunt und gepflegt wird. Dann gilt er nach Regelung des Pariser Abkommens als bewirtschaftet und anthropogen. Das heisst: Die Staaten können alles, was dort zusätzlich im Laufe der Zeit als CO₂ gebunden wird, als Senke anrechnen lassen.
«Doch durch das Forstmanagement wird nur ein Teil zusätzliches CO₂ im Holz gespeichert, der Rest wäre ohnehin natürlich gebunden worden – ohne Zutun des Menschen», erklärt Knutti. Die grosse Herausforderung sei, den Anteil des Menschen rechnerisch zu bestimmen.
So wird netto null nicht erreicht
Wie gross das Problem ist, beschreibt der Weltklimarat IPCC in einem Bericht, der im Juli erschien. In den globalen Modellen des IPCC, der zwischen anthropogener und natürlicher Senke unterscheidet, wird bedeutend weniger CO₂ durch eine veränderte Landnutzung durch den Menschen gespeichert als in den nationalen Treibhausgasinventaren. Die Differenz beträgt 6 bis 7 Milliarden Tonnen CO₂ pro Jahr, das entspricht etwa 15 Prozent der globalen CO₂-Emissionen.
Was das konkret bedeutet: Mit der bisherigen Bilanzierung können Staaten mit grossem Waldanteil in ihren nationalen Klimaprogrammen vermeintlich ihre Klimaziele erreichen. Tatsächlich kommen sie jedoch auf diese Weise nie auf netto null, weil die jährlich zusätzlichen CO₂-Emissionen durch natürliche Senken nicht kompensiert werden.
Das kümmert jedoch viele Staaten nicht. So erklärte 2021 der russische Präsident Wladimir Putin auf einer Konferenz, Russland leiste aufgrund der grossen Aufnahmekapazität durch das russische Ökosystem einen gigantischen Beitrag zur Absorption globaler Emissionen.
Verschleierung der wahren Emissionen
Die Staaten haben dieses Schlupfloch des Pariser Klimaabkommens erkannt. Die meisten Industrieländer, auch die Schweiz, bezeichnen ihre gesamte Waldfläche als «bewirtschaftet», wie UNO-Daten zeigen. Das heisst, in vielen Staaten dürften auch naturbelassene Wälder im Sinne der Wissenschaft fälschlicherweise als «anthropogen» klassifiziert sein und in die Treibhausgasbilanz einfliessen.
Nur die USA, Kanada, Russland und die EU scheiden «unbewirtschaftete», also natürliche Waldflächen aus. Doch auch das kann für ein Land von Vorteil sein: Das Klimaabkommen verlangt bei «unbewirtschafteten» Flächen keine Daten wie zum Beispiel zu Waldbränden, welche die natürlichen Senken zerstören und Millionen Tonnen CO₂ produzieren. Hinzu kommt, dass betroffene Staaten diese Waldbrände als natürliche Störung einstufen und so in der jährlichen Treibhausgasbilanz nicht verrechnen.
«Durch dieses Versäumnis bleiben erhebliche Emissionen unberücksichtigt und verschleiern die wahren Auswirkungen auf das Klima», heisst es in einem Bericht der internationalen Forschungsgruppe Zero Carbon Analytics. Die Forschenden zeigen die Konsequenz am Beispiel Kanadas: Im vergangenen Jahr haben in Kanada Waldbrände 640 Millionen Tonnen Kohlenstoff freigesetzt. Das ist mehr als Kanadas CO₂-Emissionen aus fossilen Brennstoffen im Jahr 2022. Diese Emissionen wurden im Treibhausgasinventar nicht verbucht.
Vor allem Wälder werden in den nächsten nationalen Klimaplänen ein wichtiger Faktor sein. Die Autoren der Oxford-Studie befürchten, dass die Senken in den nächsten Jahren in manchen Staaten eine wichtige Hilfe sein werden, um die im Klimavertrag geforderten Ambitionen im Klimaschutz zu erhöhen. Das heisst: Dank Senken müssen unter dem Strich weniger Emissionen reduziert werden. «Wenn wir die Transparenz in der nationalen Treibhausgasberichterstattung nicht erhöhen, werden Kompensationen Teil des Problems statt Teil der Lösung werden», sagt Mitautorin Kirsten Zickfeld von der kanadischen Simon Fraser University in British Columbia.
Langfristig haben Waldprojekte kaum Wirkung
Für ETH-Forscher Reto Knutti sind Landnutzung oder Waldsenken ohnehin nicht genügend wirksam und dauerhaft, wenn es langfristig um die Kompensation nur beschränkt reduzierbarer Emissionen geht, etwa in der Stahlindustrie, in der Landwirtschaft oder im Flugverkehr. «Die Konsequenz aus meiner Sicht ist, dass langfristig jede Tonne Kohlendioxid, die emittiert wird, wieder in den Boden muss», sagt Reto Knutti.
Das wäre mit der technischen Methode, CO₂ aus der Atmosphäre zu filtern und anschliessend im Untergrund fix zu speichern, möglich. Die Frage ist nur, ob man in Zukunft Milliarden Tonnen CO₂ der Atmosphäre entziehen kann, und das zu bezahlbaren Kosten. Für Knutti gilt das Verursacherprinzip: «Wer Öl fördert oder wer es importiert, muss für die entsprechende Entfernung von CO₂ zahlen.»
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